Eine Verteidigung politischer Identität

Jakob Rennhofer

Seit dem Aufkommen zahlreicher Debatten zum Themenkomplex „Identitätspolitik“ scheint es fast schon als verpönt zu gelten, die Frage nach der Relevanz politischer Identitätsbildung zu stellen. Und tatsächlich sind in den vergangenen Jahren einige exzellente Schriften veröffentlicht worden, die glaubwürdig nachweisen, dass ein großer Teil der gesellschaftlichen Linken mit der zwanghaften Fokussierung auf individuelle Kränkungs- und Unterdrückungskategorien der neoliberalen Individualisierung Vorschub leistet und ihr eigenes, angeblich emanzipatorisches Projekt selbst unterminiert.¹

So weit, so verständlich. Doch mit der Dekonstruktion der „Identitätspolitik“ wurde im gleichen Atemzug die Frage nach der politischen Identität verdrängt. Das ist insofern katastrophal, als es im 20. Jahrhundert gerade der Arbeiter*innenbewegung am besten gelang, politische Identitätsangebote zu stellen. Beispiele lassen sich zuhauf aufzählen. „Drum links, zwei, drei! Drum links, zwei, drei! // Wo dein Platz, Genosse, ist! // Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, // weil du auch ein Arbeiter bist.“ heißt es in einem der bekanntesten Arbeiter*innenlieder überhaupt, dem Einheitsfrontlied. Der Arbeiter wird in diesem Stück als solcher adressiert – du bist ein Arbeiter, also schließe dich uns an! 

Ziel dieses Text ist es also, die Relevanz politischer Identitätsbildung herauszuarbeiten, ohne dabei einer postmodernen Identitätspolitik zu verfallen.

Was ist Identität?

Bei der Frage, was denn eine „Identität“ überhaupt sei, fangen die ersten Probleme bereits an. Das liegt u.a. an der Tatsache, dass der Begriff der Identität so gut wie nie ohne ein einschränkendes Adjektiv verwendet wird. Wir sprechen von kultureller, sexueller oder politischer Identität, aber nie von der Identität als solcher. Das ist insofern verständlich, als eine Beschreibung einer „gesamten“ Identität ohne weitere Kategorien schwierig ist. Die Beantwortung der Frage, wer man wirklich ist, stellt eine Lebensfrage für die aller meisten Menschen dar.

Fakt ist außerdem: Identitäten gab es schon immer. Die Frage ist nur, welchen Stellenwert sie innerhalb des Sozialen einnehmen. In den Sozialwissenschaften ist man sich darüber einig, dass die Frage nach der Identität im Laufe der vergangenen Jahrzehnte immer wichtiger wurde. Die Soziolog*innen Rolf Eickelpasch und Claudia Rademacher schreiben dazu:

„Identität, so scheint es, wird in Alltag und Wissenschaft zum Dauerthema, weil die tradierten gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen für eine stabile soziale Verortung und Einbindung der Menschen zunehmend wegbrechen.“²

Zusammengefasst könnte man behaupten: In der neoliberalen Ordnung, die im Westen (noch) vorherrschend ist, rückt mit der Individualisierung der Gesellschaft auch die individuelle Identität in den Vordergrund. Es ist dieser Wechsel vom Allgemeinen zum Besonderen, der den Übergang der Moderne in die Spätmoderne auszeichnet, wie der Soziologe Andreas Reckwitz es beschrieben hat. Da die politische Linke ja nicht nur für einen ökonomischen, sondern auch für einen kulturellen Wandel kämpft, der die Individualisierung aufhalten und an ihrer Stelle eine auf Solidarität basierende Gemeinschaftskultur etablieren möchte, liegt der gedankliche Schluss nahe, die Frage nach Identitäten zu verwerfen – oder ihre Beantwortung zumindest zu vertagen. So sehen es im Moment auch die allermeisten  Mitte-links-Kräfte - von der SPÖ bis zur deutschen Linkspartei. Doch machen wir es uns damit nicht zu einfach?

Man könnte unzählige Beispiele für die Relevanz der Arbeiter*innenidentität als „Rote*r“ aus den vergangenen Jahrzehnten nennen. Ein Beispiel, das mir letztens im persönlichen Bekanntenkreis zugetragen wurde: Sonntag der Nationalratswahl, irgendwann in den 90ern. Der Familienvater ist bei seiner Ex-Frau und den Kindern zum Essen eingeladen. Auf die Frage der Frau, ob er denn schon wählen war, antwortete er mit einem: „Nein, ich geh erst nach dem Essen, aber ich werd‘ diesmal eh den Haider wählen!“. In dem Moment steht die Frau auf, reisst dem Mann die Suppe aus den Händen und schreit: „Bist du wahnsinnig geworden? Weisst du denn nicht, wo du herkommst?“. Der Mann wurde im Anschluss zum Verlassen des Hauses aufgefordert, welches er erst wieder betreten dürfe, sobald er die SPÖ gewählt hat.

Für Lohnarbeitende war einfach klar: „Wer Arbeiter*in ist, wählt SPÖ.“ Das mag aus heutiger Perspektive etwas undemokratisch klingen. Diese Haltung war jedoch verständlich, da erkannt wurde, dass Arbeiter*innen mit der SPÖ sich gewissermaßen selbst, bzw. die Vertreter*innen ihrer eigenen Klasse, wählen können. Der Kitt dieser Faktoren ist die Zugehörigkeit zu einer kollektiven Identität, nämlich „ein*e Rote*r“ zu sein. Freilich ist die kollektive Identität nun auch kein „Geheimrezept“, mit dem wir die Massen sofort (zurück)gewinnen können. Der Historiker Christoph Jünke weist daraufhin, dass die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung gezeigt hätte, dass eine zu starke „Arbeitertümelei“ ein destruktives Potenzial in sich trage, so bspw. in der Ausgrenzung Intellektueller oder in der Ablehnung von Bündnissen mit nicht der eigenen Klasse assoziierten Bewegungen gegen den Faschismus.³ Dennoch ist die Sphäre der politischen, kollektiven Identität meines Erachtens unerlässlich für die Formation politisch handlungsfähiger Subjekte.

Wie können wir zu den Wurzeln dieser ehemaligen kollektiven Identität zurückkehren? Die vulgärmarxistische Antwort wäre es nun, zu sagen: „Das Problem liegt im fehlenden Klassenbewusstsein. Wir müssen den Menschen erklären, dass sie Arbeiter*innen sind. Sobald sie diesen Umstand erkennen, können sie nicht anders, als linke Parteien zu wählen.“. Das würde zweierlei voraussetzen: a.) die Menschen sind sich ihrer Stellung im Produktionsprozess nicht bewusst und b.) wenn sie es wären, würden sie ein rationales Klasseninteresse verfolgen. Spätestens seit Gramsci wissen wir, wie naiv und reduktionistisch diese Annahme ist. Daran hat sich in den vergangenen 100 Jahren wenig geändert: In der im vergangenen Jahr publizierten Studie „Klassenbewusstsein und Wahlentscheidung“⁴ zeigen die Sozialwissenschaftler Linus Westheuser und Thomas Lux anhand empirischer Daten auf, dass ein Großteil der im Produktions- und Dienstleistungssektor arbeitenden Menschen sich sehr wohl als „Arbeiter*innen“ identifiziert, im Vergleich jedoch kaum jene Interessen vertritt, die klassischerweise mit der Arbeiter*innenbewegung assoziiert werden. Sie schreiben:

„Arbeiterklassenidentität und Unten-Bewusstsein sind mit einer teils deutlich erhöhten Tendenz zur AfD-Wahl verknüpft. Ein Bewusstsein für antagonistische Klasseninteressen geht dagegen mit einer klaren Präferenz für Mitte-links-Parteien einher. (…) Entgegen der oben zitierten Hoffnung einiger Beobachter:innen lässt sich also sagen, dass eine Klassenidentität an sich noch nicht gegen Rechtsextremismus immunisiert. Im Gegenteil scheint auch die AfD zumindest in Teilen jenen eine politische Heimat zu bieten, die sich selbst als Teil der Arbeiterklasse verstehen und sich gesellschaftlich eher unten verorten.“⁵

Wir müssen also - entgegen der klassisch-marxistischen Vorstellung – von der Tatsache ausgehen, dass „Klassenbewusstsein“ alleine nicht ausreichend ist, um die Arbeiter*innenbewegung handlungsfähig und die aus ihr entsprungenen Parteien regierungsfähig zu machen. 

 

Am Nullpunkt der Identität

Wie man es dreht und wendet, es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, nach einer Identität zu streben bzw. sich mit etwas (einer Person, einer politischen Partei, einem Sportverein) zu identifizieren. Psychoanalytiker*innen wie Jacques Lacan gingen sogar so weit, zu behaupten, dass es jenseits der diversen Identifizierungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens bewusst oder unbewusst vornimmt, kein authentisches Ich gäbe.⁶

Der marxistische Philosoph Louis Althusser hat dies mit seinem Begriff der „Anrufung“ herausgearbeitet. Zunächst beschreibt Althusser die Funktion der Ideologie im Kapitalismus. Laut Althusser stellt die Ideologie „die ‚Repräsentation‘ des imaginären Verhältnisses der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“ dar.⁷ Die Ideologie ist also jene Vermittlungsinstanz, die unsere Identität mit der herrschenden Ordnung in ein Verhältnis setzt. Ohne die Ideologie, die unsere Wahrnehmung der Realität maßgeblich vorstrukturiert, können wir uns in kein Verhältnis mit der Welt, in der wir leben, setzen – und damit auch keine Identität aufbauen. 

Wie genau sieht diese „Vermittlung“ nun aus? Althusser beschreibt diesen Prozess anhand einer sehr alltäglichen Szene. 

Ein Polizist schreit auf der Straße „He, Sie da!“. Wir erkennen sofort, dass damit „wir“ gemeint gewesen sein müssen und drehen uns um. Althusser folgert weiter:

„Einmal unterstellt, dass die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, dann dreht sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, dass der Anruf ‚genau‘ ihm galt und dass es ‚gerade es war, das angerufen wurde‘ (und niemand anderes).“⁸

Althusser will uns damit sagen, dass uns unsere Identität zwar als etwas „intrinsisches“ vorkommt, in Wahrheit aber durch die Ideologie vorstrukturiert ist. Und erst in dem Moment, in dem uns die Ideologie als Subjekt (sagen wir zur Vereinfachung ‚Identität‘) anruft, uns also identifiziert, wir überhaupt erst zu unserer Identität kommen. Das Beispiel des Polizisten hat allerdings – wie Althusser im Anschluss selbst betont – einen Haken. Es suggeriert, dass es sich bei der ideologischen Herstellung von Identität um eine strukturierte Abfolge handelt: Wir wissen nicht, wer wir sind, bis die Ideologie uns plötzlich anruft und wir eine Identität besitzen. In Wahrheit fallen der Moment, in dem wir uns überhaupt als „Ich“ erkennen und der Moment der Anrufung zeitlich zusammen. Das bedeutet also: Es gibt keinen Moment, indem unsere Identität nicht schon durch die Ideologie vorstrukturiert gewesen wäre. Mit einem gewissen Augenzwinkern behauptet Althusser sogar, dass diese „Anrufung“ der Identität schon vor der Geburt eines Menschen stattfindet:

„Es steht von vorneherein fest, dass es [das Kind] den Namen seines Vaters tragen wird, also eine Identität haben und durch niemanden zu ersetzen sein wird. Noch bevor das Kind geboren ist, ist es immer schon Subjekt, ist es in und durch die spezifische familiale ideologische Konfiguration zum Subjekt bestimmt, in der es nach der Zeugung ‚erwartet‘ wird.“⁹

Anders gesagt: Bevor wir uns noch aktiv rational dazu entscheiden, eine gewisse Identität anzunehmen, haben wir diese im Vorfeld bereits angenommen. Slavoj Zizek zeigt dies anhand des Christentums: Ein wahrer Christ tritt der Kirche nicht aufgrund kohärenter theologischer Argumente bei. Ein wahrer Christ wurde bereits ursprünglich durch den „Glauben“ beseelt, die theologischen Argumente, die zur Begründung des eigenen Glaubens vorgebracht werden, folgen erst danach.¹⁰

Ein Bruch mit der aufoktroyierten Identität ist genauso wie der Bruch mit der herrschenden Ideologie ein langer, anstrengender Kampf. Deswegen ist die Vorstellung, man könnte Arbeiter*innen, die nach rechts gerutscht sind, mit der „Kraft des besseren Arguments“ wieder auf die linke Seite holen, absolut realitätsfern."

Identität als Ideologie und als Chance

Welche Erkenntnis können wir aus diesem theoretischen – und ehrlich gesagt auch sehr abstrakten – Exkurs ableiten? Kurz zusammengefasst: Identität steht am Anfang jedes „Ich-Empfindens“ und kann daher als Faktor in der politischen Analyse nicht vernachlässigt werden. Zugleich erklärt Althussers Ideologietheorie auch ein Stück weit, warum das Ende der Kapitalismus – um Frederic Jameson zu zitieren – für die meisten Menschen unvorstellbarer scheint als das Ende der Welt. Die Ideologie stellt uns nicht nur eine Identität zur Verfügung, sie brennt diese Identität wahrlich in die Subjekte ein – und mit dieser Identität auch grundsätzliche Vorstellungen der sozialen Matrix, ohne die wir orientierungslos und psychotisch durch die Welt laufen würden. 

An dieser Stelle kann man auch nahtlos an eine Kritik der postmodernen Identitätspolitik ansetzen, wie sie in linksliberalen Kreisen in den vergangenen Jahren gepflegt wurde. Eine Identität lässt sich eben nicht einfach so wechseln wie eine Unterhose, genauso wenig wie man einfach die Ideologie abschütteln kann. Ein Bruch mit der aufoktroyierten Identität ist genauso wie der Bruch mit der herrschenden Ideologie ein langer, anstrengender Kampf. Deswegen ist die Vorstellung, man könnte Arbeiter*innen, die nach rechts gerutscht sind, mit der „Kraft des besseren Arguments“ wieder auf die linke Seite holen, absolut realitätsfern. Immerhin haben diese Arbeiter*innen sich auch nicht von einem Tag auf den anderen von rechten Parteien überzeugen lassen, ihr Schwenk nach rechts ist das Produkt jahrelanger politischer Enttäuschungen, die ihnen nach und nach die eigene Identität madig gemacht haben, bis sie ein stärkeres Identitätsangebot von rechts erkannt und dieses über Jahre hinweg prozesshaft angenommen haben. 

Wenn wir also anerkennen, dass die Bindung an Identitäten affektiv und nicht rational verläuft, stellt sich wieder einmal die allseits bekannte Frage „Was tun?“. Hier gibt es mit Sicherheit keine Universal-Antwort, wir könnten der Beantwortung der Frage allerdings näherkommen, wenn wir den Blick auf die Theorie der „Konstruktion kollektiver Identitäten“ nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe wenden.

Für Laclau und Mouffe sind politische Subjekte – wie bspw. die Arbeiter*innenklasse – kontingent, also nicht notwendigerweise gegeben (in Abgrenzung zum klassischen historischen Materialismus, der nur die Arbeiter*innenklasse als Subjekt wirklicher Veränderung betrachtet). Im Gegenteil können politische Subjekte erst entstehen, wenn sie sich als Teil einer „kollektiven Identität“ konstituieren. Diese kollektive Identität gilt es jedoch zunächst diskursiv zu konstruieren. 

Den Anfang dieser Konstruktion sieht Laclau in einer einfachen Forderung (demand). Eine Gruppe an Menschen hat ein konkretes soziales Anliegen, beispielsweise die Reduktion von Mietpreisen, da diese unleistbar geworden sind. Sie wendet sich also an die Regierung – diese kann das Problem politisch aus der Welt schaffen, damit wäre die Sache erledigt. Geht sie dieser Forderung jedoch nicht nach, merkt die Gruppe, die sich zunächst nur mit den Mietpreisen beschäftigt hat, dass es andere Gruppen gibt, deren Anliegen ebenfalls nicht ernstgenommen werden. Diese Gruppen samt ihrer Forderungen stehen plötzlich in einem äquivalenten Verhältnis zueinander. Diese Pluralität an Forderungen nennt Laclau dann „populare Forderungen“¹¹. Laclau schreibt dann:

„Was wir hier haben, ist eine populistische Konfiguration im Embryonalstadium. Bereits zwei Voraussetzungen für die Entstehung des Populismus sind gegeben: zum einen die Errichtung einer inneren antagonistischen Grenze, die ‚Volk‘ und Macht trennt, und zum anderen die äquivalentielle Artikulation von Forderungen, die die Entstehung eines ‚Volkes‘ ermöglicht. Eine dritte Vorbedingung kommt erst dann zum Tragen, wenn die politische Mobilisierung ein gewisses Niveau erreicht hat: die Vereinigung der unterschiedlichen Forderungen – deren Äquivalenz sich bis zu diesem Punkt in einem vagen Solidaritätsgefühl erschöpft – in einem stabilen Bedeutungssystem.“¹²

Dass Laclaus Theorie nicht von der Hand zu weisen ist, zeigen einige Beispiele unterschiedlich erfolgreicher sozialer Bewegungen der letzten Jahre. Dass die KPÖ und zuletzt auch die Linkspartei in Deutschland einen Aufschwung verzeichnen konnten, hat bestimmt multiple Gründe. Ein ausschlaggebender war jedoch bestimmt der Fokus auf das Thema „Wohnen“, da sich in diesem Thema a.) alltägliche Erfahrungen, die die meisten arbeitenden Menschen in unserer Gesellschaft machen und b.) die grundlegende Struktur des Kapitalismus (Ausbeutende Besitzende und ausgebeutete Besitzlose) verdichten. Somit stand das Thema „Wohnen“ nicht mehr bloß für sich selbst (als partikulare Forderung, um Laclaus Begrifflichkeiten zu verwenden), sondern für die Gesamtheit aller Forderungen, die sich gegen den kapitalistischen Irrsinn der Gegenwart richten. Kurz gesagt: Die Verknotung verschiedenster politischer Forderungen unter einer Forderung oder einem Namen (leerer Signifikant), der zum Ausdruck der Gesamtheit aller Kämpfe wird, stiftet handlungsfähige politische Identitäten. 

 

Für politische Identitäten, gegen Identitätspolitik

Müssen linke Parteien einfach dem Fahrplan der Laclau’schen Populismustheorie folgen, um wieder reüssieren zu können? Das wäre freilich zu einfach gedacht. Die Krise der politischen Linken hängt von einer Vielzahl verschiedener Faktoren ab. Dennoch können wir mit Laclau feststellen, dass politische Identitäten durch einen Prozess, der an den Lebensrealitäten der Menschen anknüpft und ihre konkreten Forderungen zum Ausgangspunkt einer Politik macht, die tatsächlich etwas an den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen ändern möchte, erst hergestellt werden müssen. Und dafür reicht die Kraft des besseren Arguments nicht, man muss auch auf der Identitätsebene ein Angebot bereitstellen, an das sich Menschen affektiv binden möchten. Bevor jedoch der Verdacht auftaucht, dass dieser Text bloß eine Rehabilitierung der Identitätspolitik, wie sie seit Jahren von der post-materialistischen Linken betrieben wird, sei, muss vielleicht noch etwas über den Unterschied zwischen Identitätspolitik und der Herstellung politischer Identitäten gesagt werden. 

Identitätspolitik ist ein System der reinen Differenzen im Vergleich zum Prozess der Herstellung politischer Identitäten, der, wie wir gesehen haben, auf dem Boden der Äquivalenz steht. Klarer formuliert: Während sich identitätspolitische Linke gern in so viel Kategorien der Unterdrückungsmechanismen und damit auch Identitäten wie möglich aufspalten möchten, muss es einer materialistischen Linken darum gehen, die Vielzahl der Kämpfe – die natürlich auch das Produkt unterschiedlicher Erfahrungen im Kapitalismus sind – unter einem gemeinsamen Hut zu bringen, ohne diese Kämpfe gegeneinander auszuspielen. Dieses Ausspielen mag von Vertreter*innen der Identitätspolitik zwar verneint werden, doch sie machen es – und zwar ständig. Politische Analysen werden durch individuelle Gefühls- und Kränkungszustände ersetzt. Wolfgang Pohrt, der wohl zu den merkwürdigsten Figuren der (anti)deutschen Linken zählte und dem ganz sicher in sehr vielem nicht zuzustimmen ist, hat dieses Phänomen bereits in den 1980er Jahren treffend beschrieben: 

„Die Linke hat keine Taten vorzuweisen oder Taten zu verleugnen, so will sie wenigstens zu ihren Gefühlen stehen. (…) Sich nicht mehr zu den Parolen von gestern, sondern zu den Gefühlen von heute zu bekennen, ist ein Gewinn an Flexibilität, an geistiger und politischer Beweglichkeit.“¹³ 

Menschen, die nicht automatisch das Richtige tun oder das Richtige sagen, werden von identitätspolitischen Linken als nützliche Idioten oder Profiteure der herrschenden Ordnung diffamiert. Hermeneutisches Wohlwollen sollte eigentlich eine zentrale Kategorie von Solidarität sein, diese „Linken“ kennen dieses Wohlwollen nicht. In einer Gesellschaft, in der sich jeder der Nächste ist, kommt es nicht darauf an, er wer denn jetzt am schlimmsten davon betroffen ist. Es geht darum, die Grundlagen dieser Gesellschaft zu verändern – und nicht bloß darum, sie etwas bequemer zu gestalten, so wie das linksliberale Anhänger*innen der Identitätspolitik gerne für marginalisierte Gruppen einfordern. Und um das zu schaffen, müssen wir uns erstmal wieder stolz als „Rote“ bezeichnen können.

 

Anmerkungen

¹ Ein lesenswertes Beispiel: Fraser, Nancy (2017): „Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus“, in: Geiselberger, Heinrich (2017): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp.

² Eickelpasch, Rolf; Rademacher, Claudia (2013): Identität. Bielefeld: Transcript. Vierte unveränderte Auflage. S. 5

³ vgl. Jünke, Christoph (2022): „Identität und/oder linke Politik. Ein Streifzug durch die neuere identitätspolitische Debatte nebst Anmerkungen zur Theorie und Geschichte eines überholten Konzepts“, in: Hanloser, Gerald (Hrsg.): Identität & Politik. Kritisches zu linken Positionierungen. Wien/Berlin: Mandelbaum. S.36

⁴ Westheuser, Linus; Lux, Thomas (2024): Klassenbewusstsein und Wahlentscheidung. Klasse als politischer Kompass? Bonn: Friedrich Ebert Stiftung. 

⁵ Ebd: S. 21

⁶ Lacan, Jacques (1991): Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Dritte korrigierte Auflage. Berlin: Quadriga. S. 61

⁷ Althusser, Louis (2010): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Herausgegeben von Frieder Otto Wolf. Hamburg: VSA. S. 75

⁸ Ebd. 88 f.

⁹ Ebd. 90f.

¹⁰ siehe Zizek, Slavoj (2022): Das erhabene Objekt der Ideologie. Wien: Passagen Verlag. S. 76

¹¹ Laclau, Ernesto (2022): Die populistische Vernunft. Wien: Passagen. S. 102 f.

¹² Ebd.

¹³ Pohrt, Wolfgang (1982): Die Angst der Deutschen, S. 95, erschienen in: Pohrt, Wolfgang (2025): Wahn, Ideologie und Realitätsverlust. Metamorphosen des deutschen Massenbewusstseins. Ein Reader. Herausgegeben von Klaus Bittermann. Berlin: Edition Tiamat, S. 94 – 102.