Wie mit dem "Realsozialismus" umgehen?

Karol Leverknecht, Lila Lichtenstein

In Österreich, aber auch weltweit, lässt sich in den vergangenen Jahren eine Renaissance des Marxismus verzeichnen. Der Sozialismus als gesellschaftspolitisches Ziel einer Bewegung nimmt wieder mehr Platz in Debatten ein und gewinnt eine gewichtigere Rolle im Selbstbild sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien. Aus der Politik realsozialistischer Staaten, Schlüsse zu ziehen für die Gegenwart und Zukunft, ermöglicht ein neues Denken eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts” in Zeiten eines fortgeschrittenen Kapitalismus, einer Globalisierung und Liberalisierung des Arbeitsmarktes und daraus entstehenden Identitätskrisen. Wie wir dahin kommen verlangt jedoch zu verstehen, was Realsozialismus bedeutet, was wir ihm zu verdanken haben und warum er letztendlich scheiterte.

Dieser Artikel stellt nicht den Anspruch, die Frage nach der Positionierung zum Realsozialismus bzw. zur Politik realsozialistischer Länder vollends zu beantworten. Er befasst sich mit der Definition, gibt Positiv- und Negativbeispiele aus der Vergangenheit wieder und versucht diese auch in Hinblick auf aktuelle und zukünftige Handlungsmöglichkeiten zu analysieren. 

 

Wie wird der Realsozialismus definiert? 

Der Realsozialismus oder auch real existierender Sozialismus kennzeichnet ein bestimmtes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem in Ländern, in denen kommunistische oder sozialistische Parteien eine Vorherrschaft innehatten und haben. In Volksrepubliken, wie beispielsweise in China, wurden Blockparteien der Kommunistischen Partei unterstellt und erweckten damit den Anschein eines demokratischen Pluralismus. Zumeist existiert im Realsozialismus ein Ein-Partei-System und eine zentral organisierte Wirtschaft mit planwirtschaftlichen Elementen, beispielsweise durch Verstaatlichung, selten durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Der Anspruch war die Schaffung eines “Neuen Menschen”, befreit vom Kapitalismus. Dazu mussten neue Produktionsverhältnisse geschaffen werden. Dies zur Grundlage nehmend, wurden darüber hinaus auch progressive soziale Elemente im Bildungs- und Gesundheitssystem sowie der Gleichstellungspolitik real umgesetzt. In realsozialistischen Ländern stieg die Alphabetisierungsrate rapide. Mädchen und Frauen konnten erstmals Bildung genießen. Auch das kulturelle Vereinswesen wurde gefördert. Eine frühe Reduktion der Arbeitszeit hatte ja auch erstmals zur Freizeit geführt. 

Der Realsozialismus war stets geprägt von ökonomischen und geopolitischen Voraussetzungen. Diese bestimmten, welche spezifische Form des Sozialismus umgesetzt wurde. Denken wir an die Geschichte der Sowjetunion, als Geschichte sozialistischer Transformationsprozesse in einem Land: In Russland erfolgte die Revolution nach der Entmachtung der Zarenfamilie Anfang des 20. Jahrhunderts. Später wurde von Lenin der Kriegskommunismus eingeführt. Er beinhaltete die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Es kam binnen weniger Jahre zu einer straffen Zentralisierung und Bürokratisierung der Wirtschaft. Lenin sah darin die Antwort auf die schwere ökonomische Lage nach dem russischen Bürgerkrieg. Mit seiner “Neuen ökonomischen Politik” ab 1921 änderte sich der Anspruch. Es folgte eine Dezentralisierung und Liberalisierung in der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie. Teilweise wurden marktwirtschaftliche Methoden zugestanden. 

 

“Unter den heute noch existierenden realsozialistischen Ländern ist China die einzige Großmacht. Hier mischen sich kapitalistische Züge unter den staatstragenden Kommunismus, wobei die kommunistische Ideologie lediglich dem Machterhalt dient.”

Entgegen jener, die an die Weltrevolution glaubten, prägte später Stalin das machtorientierte Konzept des “Sozialismus in einem Land”, das auch zur Staatsdoktrin erhoben wurde. Der Verfall des sowjetischen Realsozialismus zeigte sich spätestens durch die Einführung von Glasnost (Offenheit und Transparenz) und Perestroika (Umstrukturierung) Mitte der 1980er Jahre unter Michail Gorbatschow. In fast 70 Jahren sowjetischer Geschichte gab es also eine Vielzahl an Transformationsprozessen. Jedes politische und gesellschaftliche Modell beanspruchte sozialistisch zu sein, trotz ihrer unterschiedlichen Zugänge. Auch die historischen Ausgangspunkte zur Gründung realsozialistischer Länder waren sehr unterschiedlich. Manche waren zuvor stark feudal geprägt (UdSSR), andere erhoben sich aus dem Imperialismus (Kuba) oder Despotismus (China), wieder andere resultieren aus Stellvertreterkriegen des Kalten Krieges (Vietnam). Sie hatten eine Gemeinsamkeit: Überall dort, wo eine revolutionäre Erhebung der Arbeiter:innenklasse gelang, wurde ein sozialistischer Staat gegründet. Heute gibt es offiziell noch fünf realsozialistisch regierte Länder: Kuba, Vietnam, die Volksrepublik China, Laos und Nordkorea. 

 

Sonderrolle China 

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama prophezeite 1985 ein “Ende der Geschichte” mit dem Zerfall der Sowjetunion. Mit dem Zusammenbruch würde sich die liberale Demokratie und Marktwirtschaft weltweit endgültig durchsetzen. Das Wiedererstarken Chinas mit einer Modernisierung ohne Demokratie widerspricht dieser These. Unter den heute noch existierenden realsozialistischen Ländern ist China die einzige Großmacht. Hier mischen sich kapitalistische Züge unter den staatstragenden Kommunismus, wobei die kommunistische Ideologie lediglich dem Machterhalt dient. Seit Mitte der 1990er Jahre boomt die Wirtschaft. Firmen des globalen Nordens produzieren Waren, während staatliche Unternehmen immer noch eine Vormachtstellung beispielsweise bei der Vergabe von Lizenzen haben. Doch um welchen Preis? Die Verfolgung von Minderheiten und politischen Oppositionellen wird als Machtinstrument genutzt, Angehörige der Arbeiter:innenklasse können kaum als Freie gelten. 


 

Lehren des Realsozialismus

Eine unerlässliche Voraussetzung für erfolgreiche Transformationsprozesse in Zukunft ist eine gründliche Analyse des Scheiterns des Realsozialismus, um dies künftig zu vermeiden. Lediglich daraus wird sich kein Modell eines zukunftsfähigen Sozialismus entwickeln lassen können. Einige Auffassungen von Marx und Engels sind wegen veränderter Gegebenheiten, Klassenlagen und sozialer sowie wirtschaftlicher Bedingungen überholt. Es bedarf einer Anpassung an die Realisierungsbedingungen unserer Zeit und den Mut, auch Neues zu wagen. Darüber hinaus müssen auch Themen bearbeitet werden, die bei Marx, Engels und Lenin zu kurz kamen, wie beispielsweise die Auswirkungen des Nationalismus. 

Zu einer Implosion realsozialistischer Länder trug ohne Frage die oftmals fehlende Einbeziehung der Massen an Arbeiter:innen bei, denen es verwehrt wurde, am politischen Diskurs teilzunehmen und Parteibeschlüsse mit zu fällen. Darüber hinaus zog sich oftmals Klientelismus und Korruption des Kaders durch das System. Der Realsozialismus muss also demokratisch organisiert werden und den Massen ein Mitsprache- und Stimmrecht geben. Das unterscheidet ihn auch vom Kapitalismus, in dem es davon abhängt, welchem Geschlecht, welcher Ethnie und Klasse man angehört, um am politischen System partizipieren zu können. Ein demokratischer Sozialismus muss auf einer Gewaltenteilung, also der Trennung der staatlichen Obrigkeit, in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung basieren. Andernfalls beisst sich die Katze in den Schwanz, wenn sich die gesamte Macht im Kader manifestiert. Auch wenn die ursprüngliche Idee der Gewaltenteilung bürgerlichen Köpfen entsprang, kann dieses Konzept neu gedacht werden. Richter:innen sollten beispielsweise nicht mehr von Politiker:innen bestellt, sondern vom Volk gewählt werden. 

Sozialismus darf nicht auf Repression basieren. Es braucht ein System, das die Mehrheit der Menschen hinter sich hat. Der Missbrauch des Sozialismus, die Deformationen der marxistischen Utopie unter Stalin oder auch in der chinesischen Kulturrevolution, müssen stets reflektiert werden. Es schadete ohne Frage dem ursprünglichen humanistischen und emanzipatorischen Verständnis Marx. Dieser Missbrauch darf jedoch nicht dazu führen, dass die Sozialist:innen auf die rote Fahne, auf den Marxismus, auf ein klares Bekenntnis zur klassenlosen Gesellschaft verzichten: Es gilt, diese Begriffe und Symbole vom Missbrauch zu reinigen und ihren Inhalt neu zu erklären. 

Eines muss klar sein: Die Fehlentwicklungen im Realsozialismus sind nicht grundlegend dem Sozialismus immanent. Sie hängen nicht nur von Fehlentscheidungen einzelner Führungspersonen ab. Auch äußere Umstände, wie die wirtschaftliche Überlegenheit kapitalistischer Länder, bedrängten die sozialistische Utopie. Denken wir hier an das US-Embargo gegen Kuba, das desaströse Auswirkungen auf die kubanische Gesundheits- und Lebensmittelversorgung hat. Eine wirtschaftliche Überlegenheit im kapitalistischen System kann nur auf die Ausbeutung der Arbeiter:innen und der Natur gestützt werden. Es ist der Sozialismus, der diesen verachtenden Lebens- und Arbeitsbedingungen trotzen muss. In realsozialistischen Ländern setzte man deshalb stets auf Investitionen in das Bildungssystem, auf den Versuch einer reproduktiven Aufteilung, um eine Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben und zuletzt auch die Massenarbeitslosigkeit zu verdrängen. 

Eine Gemeinsamkeit relasozialistischer Länder bestand auch im Personenkult, ein auch in der Linken heiß umkämpftes Thema. Die einen meinen, wer die Befreiung der Menschen von allen Formen der Unterdrückung will, kann nicht gleichzeitig vor einer Führungsperson auf die Knie gehen. Aber das bedeutet nicht, dass Sozialist:innen die Rolle leugnen müssen, die einzelne Persönlichkeiten auf der Bühne der Geschichte auch in der eigenen Bewegung spielten und immer noch spielen. Da die Menschen ihre Geschichte selbst machen, ist es von großer Bedeutung, welche von ihnen an der Spitze stehen oder durch ihre geistige Leistung das geschichtliche Geschehen beeinflussen. Es kommt lediglich darauf an, die Rolle der Persönlichkeit im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu begreifen und zu reflektieren.  

"Die Fehlentwicklungen im Realsozialismus sind nicht grundlegend dem Sozialismus immanent. Sie hängen nicht nur von Fehlentscheidungen einzelner Führungspersonen ab. Auch äußere Umstände, wie die wirtschaftliche Überlegenheit kapitalistischer Länder, bedrängten die sozialistische Utopie."

Warum brauchen wir den Sozialismus? 

Der Kapitalismus ist besonders krisenanfällig. Umso mehr braucht es Antworten auf soziale Ungleichheiten. Beginnend mit der Gründung der Sowjetunion, bildeten sich immer mehr realsozialistische Staaten nach den Theorien des Marxismus mit dem Anspruch, diesen Krisen durch politische und gesellschaftliche Transformationsprozesse entgegenzuwirken. 

Der Zusammenbruch der Sowjetunion sowie des Ostblocks, hatte keine fertigen Modelle hinterlassen, die heute erfolgreich nachgeahmt werden könnten. Gleichzeitig tut sich die Möglichkeit auf, den “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” neu zu denken. Die Positivbeispiele und Errungenschaften müssen an die Bedingungen und Möglichkeiten unserer Zeit angepasst werden. Prekarisierung und soziale Ungleichheit haben sich durch den Turbokapitalismus verschärft. Sozialdemokratische und sozialistische Parteien sind gefordert, Antworten auf die Globalisierung des Arbeitsmarktes, auf die negativen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Wegrationierung der Arbeitskraft im noch kapitalistischen System zu geben. Das Fortschreiten der Klimakrise muss stärker begriffen und mit Sozial- und Wirtschaftspolitik zusammengedacht werden. Auch eine Neuverteilung reproduktiver Arbeit wird stattfinden müssen. 

Ein “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” kann also nur demokratisch organisiert, die Mehrheit einbeziehend, ökologisch nachhaltig und emanzipatorisch sein.