Was ist "Intersektionalität"?

Miriam Fischbacher

Intersektionalität ist zu einem wichtigen Schlagwort geworden, wenn es um politische und dabei besonders oft um feministische Debatten geht. Aber was steckt hinter diesem vielversprechenden Schlagwort? Woher kommt es? Und was kann Intersektionalität erreichen - und was nicht?

Was ist überhaupt Intersektionalität?

Der Begriff "Intersektionalität" ist an sich relativ jung. Vor etwa 30 Jahren wurde er von der schwarzen US-Juristin Kimberly Crenshaw eingeführt. Allerdings wurden im Kontext der Schwarzen-Feminismus-Bewegung der USA bereits ähnliche Begriffe verwendet. Vor allem das Combahee River Collective (CRC) in den 1970er Jahren sprach bereits von „interlocking of oppression“, um die ineinandergreifende Unterdrückungsform von Schwarzen lesbischen Frauen zu beschreiben und aufzuzeigen. Das Kollektiv forderte, Teil einer sozialistischen Bewegung zu sein, war jedoch auch der Ansicht, dass nur sie sich selbst befreien konnten. Crenshaw wurde unter anderem durch das CRC geprägt, fokussierte sich jedoch auf die Diskriminierung im juristischen Kontext. Als Juristin befasste sie sich mit verschiedenen Diskriminierungsklagen von Schwarzen Frauen, die allesamt mit einer ähnlichen Begründung abgewiesen wurden.

In ihrem Aufsatz "Demarginalization the Intersection of Race und Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory, and Antiracist Politics" behandelt Crenshaw genau diese Klagen. Es werden folgende Beispiele aus ihrem Aufsatz aufgezeigt: 

Eine Klage gegen General Motors von fünf schwarzen Frauen wegen Diskriminierung wird besprochen. Diese Frauen verloren ihre Arbeitsplätze oder es wurden keine schwarzen Frauen eingestellt. Das Gericht lehnte die Klage mit der Begründung ab, dass weiterhin Frauen eingestellt wurden. Somit konnte keine sexistische Diskriminierung nachgewiesen werden, und auch rassistische Diskriminierung konnte nicht nachgewiesen werden. Das Gericht war der Ansicht, dass die Klägerinnen sich bei der Klage für sexistische oder rassistische Diskriminierung entscheiden müssten und dass eine Kombination nicht möglich sei. Im zweiten Fall, "Moore v Hughes Helicopter", ging es um den Vorwurf, dass schwarze Frauen keine Beförderungen erhielten. Auch hier wurde die Klage abgelehnt, da sowohl weiße Frauen als auch schwarze Männer nicht diskriminiert wurden. Das Gericht stellte somit keine Diskriminierung fest. Auch im Fall "Payne v Travenol" scheiterte die Klage, weil sie sich explizit auf die Diskriminierung schwarzer Frauen bezog.

 

“Mittlerweile läuft der Begriff teilweise Gefahr, inflationär genutzt zu werden und von neoliberalen Ideologien instrumentalisiert zu werden.”

In allen Fällen betraf die Diskriminierung ausschließlich Schwarze Frauen, und es war weder bei Schwarzen Männern noch bei weißen Frauen eine feststellbare Diskriminierung aufgetreten. Die Begründung dafür, dass die Klagen abgewiesen wurden, war somit, dass keine Diskriminierung aufgrund von Rassismus oder Sexismus feststellbar war.

Auf Grundlage dieses aufgezeigten Dilemmas begründete Kimberly Crenshaw das Konzept der Intersektionalität, welches genau solche Formen von Diskriminierung behandelt, bei denen verschiedene Unterdrückungsformen (in diesem Fall Rassismus und Sexismus) aufeinandertreffen und dazu führen, dass eine Personengruppe diskriminiert wird. Kimberly Crenshaw verwendet dabei das Wort „Intersection“, was eben genau diese Kreuzung von verschiedenen Diskriminierungsdimensionen aufzeigt. Zur Veranschaulichung wird dafür auch das Bild der Straßenkreuzung genommen, auf der ein Unfall passiert, an dem zwei Fahrzeuge beteiligt sind. Denn wäre nur ein Fahrzeug zu dem Zeitpunkt an der Kreuzung gewesen, wäre der Unfall auch nie passiert. Erst dadurch, dass beide Fahrzeuge an der Kreuzung waren, kam es zu dem Unfall. Daher wird auch argumentiert, dass sich Diskriminierungsdimensionen nicht einfach aufaddieren lassen und auch nicht einfach nebeneinander koexistieren, sondern sich gegenseitig verstärken und überlappen.

Dieses Konzept ist im juristischen Kontext eine wichtige Errungenschaft, um Diskriminierungsdimensionen strafbar zu machen und Rechtslücken zu schließen. So kommt es, dass es mittlerweile in vielen Ländern, auch in Österreich, ein explizites Verbot gegen Mehrfachdiskriminierung gibt oder auch UN-Antidiskriminierungsrichtlinien, die sich mit Intersektionalität befassen.

Es wird deutlich, dass Intersektionalitätskonzepte in den letzten drei Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen haben. Vor allem in feministischen Debatten wird immer häufiger die Forderung nach einem intersektionalen Feminismus laut, um zu ermöglichen, dass verschiedene Formen der Unterdrückung in eine feministische Bewegung einfließen. Doch mittlerweile läuft der Begriff teilweise Gefahr, inflationär genutzt zu werden und von neoliberalen Ideologien instrumentalisiert zu werden. Das geht so weit, dass sogar Konzerne wie Amazon versuchen, Intersektionalität für sich zu nützen. 

                                     

Was sind die Kritikpunkte an dem Intersektionalitätskonzept?

Mit zunehmender Bekanntheit des Konzepts der Intersektionalität sah sich dieser Ansatz einer wachsenden Anzahl von kritischen Auseinandersetzungen gegenüber: Ein Kritikpunkt bemängelt, dass, obwohl aufgezeigt wird, dass sich verschiedene Formen der Diskriminierung überschneiden, in der Analyse von Kimberly Crenshaw in keiner Weise die Frage gestellt wird, woher diese Diskriminierung eigentlich stammt. Es werden unzureichend Erklärungsansätze geboten, die die Ursachen dieser Unterdrückung beleuchten könnten. Somit handle es sich, nach der Kritik, keineswegs um eine materialistische Analyse der Verhältnisse.

Aufgrund dieser unzureichenden materialistischen Analyse ist es daher wenig überraschend, dass für Crenshaw die Klassenverhältnisse anfangs kaum oder eine sehr untergeordnete Rolle spielten. Innerhalb des Intersektionalitätskonzepts wird "Klasse" teilweise als "Klassismus" und somit als eine von vielen Kategorien verstanden. Dadurch werden die Klassenverhältnisse als "Ismus“ und nicht mehr als die Grundlage für Ausbeutung verstanden, sondern als eine Form der Unterdrückung.

Um beim Bild der Straßenkreuzung zu bleiben: Es werden zwar einzelne Unfallorte betrachtet und beschrieben, jedoch wird nicht hinterfragt, ob es einen systemischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Unfallorten gibt.

 

Die Frage nach dem Warum fehlt!

Die Kritik legt offen, dass im Konzept der Intersektionalität die Frage, wie es zu dieser speziellen Form der Unterdrückung kommt, zu kurz kommt. Aus einer materialistischen Perspektive erfordert dies eine differenzierte Betrachtung von Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung. Ökonomische Ausbeutung wird dabei als eine wichtige Voraussetzung für verschiedene Formen der Unterdrückung betrachtet.           

Die Ausbeutung, die in einer Klassengesellschaft herrscht, ist eben essenziell für Unterdrückung und Überausbeutung und die Spaltung der Arbeiter*innenklasse. Genau diese Differenzierung fehlt oft in Intersektionalitätskonzepten, bei denen die Klasse zu einer Kategorie der Diskriminierung wird, die sich mit anderen Formen der Diskriminierung überschneidet.

Eine intersektionale Brille beschreibt Überschneidungen und schafft somit Kategorien, erklärt diese jedoch nicht ausreichend. Dadurch besteht die Gefahr, dass das bloße Aufzeigen von Mehrfachdiskriminierung nicht zu einem gemeinsamen Kampf gegen die ökonomische Ausbeutung führt, sondern vielmehr zu einer Vereinzelung der Kämpfe gegen verschiedene Formen der Diskriminierung.

Um abschließend auf die anfangs aufgeworfene Frage zurückzukommen – "Was kann Intersektionalität erreichen und was nicht?": Intersektionalität stellt ein Instrument dar, um vielfältige und sich überschneidende Formen der Diskriminierung sichtbar zu machen. Es zeigt komplexe Verflechtungen verschiedener Unterdrückungsformen auf und integriert diese in politische und vor allem juristische Auseinandersetzungen. Dennoch können Intersektionalitätskonzepte allein keine materialistische Analyse ersetzen, die der grundlegenden Frage nachgeht, wie es genau zu den Bedingungen von verschiedenen Formen der Unterdrückung und Überausbeutung kommt.                                 

Solange dabei die "Unfallorte", also die Überschneidungen von Unterdrückungsformen, lediglich isoliert betrachten werden, ohne die Konstruktion des gesamten Straßennetzes und der gesamten Infrastruktur zu hinterfragen, bleibt dieses Konzept analytisch unzureichend. Um jegliche Form der Unterdrückung und Ausbeutung zu bekämpfen, ist es daher entscheidend zu verstehen, wie Unterdrückung überhaupt entsteht. Daher ist es notwendig, die gemeinsame Ursache der verschiedenen Unterdrückungsformen zu erfassen, um die Kämpfe zu vereinen, anstatt sie isoliert zu betrachten.

 

Quellen

Mendívil, E. R. & Sarbo, B. (2022). "Intersektionalität, Identität und Marxismus" in: "Die Diversität der Ausbeutung: Zur Kritik des herrschenden Antirassismus."

Crenshaw, Kimberlé. "Demarginalizing the intersection of race and sex: A black feminist critique of antidiscrimination doctrine, feminist theory and antiracist politics." In Feminist legal theories. Routledge, 2013. 23-51.

Jawabreh, Simin (2022): "Warum uns Intersektionalität nicht weiterbringt." In Jacobin Magazin, 14. Abrufbar unter: https://jacobin.de/artikel/warum-uns-intersektionalitaet-nicht-weiterbringt-intersektionalismus-Kimberle-Crenshaw-Combahee-River-Collective-Patricia-Hill-Collins

Sweetapple, Christopher / Voß, Heinz-Jürgen / Wolter, Salih Alexander. "Intersektionalität: Von der Antidiskriminierung zur befreiten Gesellschaft." Schmetterling Verlag, Stuttgart, 2020. 7-15.