Religion und Marxismus

Clemens Weigl

Die Zahl der gläubigen Menschen weltweit steigt an - die Bedeutung von Glauben und den Glaubensinstitutionen ist also noch klar vorhanden.[1] Auch in den sozialen Netzwerken trifft man immer wieder auf Gläubige und Prediger*innen der diversesten Glaubensrichtungen, die diese als Verbreitungsmedien für ihren Glauben verwenden. Damit müssen auch wir uns als Sozialist*innen mit dem Thema des Glaubens bzw. der Glaubensinstitutionen auseinandersetzen.

„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes“, so schreibt es Karl Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.[2] Demnach betrachtet Marx die Religion als einen gedanklichen Ausweg der Menschen aus ihren eigenen Lebensverhältnissen. Die Religion vertröstet die Menschen mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, ohne dabei die Zustände anzukreiden, unter denen die Menschen ihr Leben „auf Erden“ tatsächlich verbringen müssen. Er schreibt weiter: „Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“ Eine fundamentale Kritik an Religionen und ihrer Funktion ist also unumgänglich verbunden mit einer Kritik an der Lebenswirklichkeit, die, nach Marx, überhaupt erst die Basis für einen religiösen Glauben schafft.[3]

Dabei baut das marxistische Verständnis von Religionen stark auf der sogenannten Projektionstheorie von Ludwig Andreas Feuerbach auf. Der Kern der Projektionstheorie liegt darin, dass Menschen historisch gute und positive Eigenschaften und Wünsche, denen sie nicht im Kern entsprechen können, auf ein höheres, aber in Wahrheit nichtexistierendes Wesen projiziert haben. Über viele Generationen ist so nach Feuerbach das Wesen Gottes entstanden.[4]

 

“Wenn es zu Änderungen und Verbesserungen in den Produktionsverhältnissen kommt – sich also die Lebensrealität der Menschen verbessert –, so fehlt ab einem gewissen Punkt die materielle Grundlage für Religionen.”

Auf diesem Grundverständnis baut Marx auf, wenn er die Grundkritik der Religion mit der Kritik der kapitalistischen Lebenswirklichkeit verbindet: Produktionsweisen schaffen Lebensverhältnisse, in denen es der Mehrheit der Bevölkerung (bislang) nicht gut ging. In der materiellen Basis liegt die Grundlage für Religionen, die auf ein Leben nach dem Tod hoffen, in denen es den Menschen besser gehen soll als Zeit ihres Lebens. Statt das schlechte Leben der Menschen im Hier und Jetzt zu kritisieren wird der Status Quo zu etwas gottgegebenem und dadurch legitimiert. Wenn es zu Änderungen und Verbesserungen in den Produktionsverhältnissen kommt – sich also die Lebensrealität der Menschen verbessert –, so fehlt ab einem gewissen Punkt die materielle Grundlage für Religionen.

Sehr deutlich kommt die notwendige Verbindung von Religions- und Kapitalismuskritik bei Lenin zum Ausdruck, der treffend zusammenfasst: „Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft. Die Religion ist das Opium des Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen.“[5]


 

Für die großen sozialistischen Analytiker*innen ist es, wie bereits angedeutet, von grundlegender Bedeutung, die Institutionen, die hinter einer Glaubensrichtung stehen, von der Glaubensrichtung als solcher zu trennen. Wenn beispielsweise „vom Christentum“ gesprochen wird, so ist der christliche Glaube von der dahinterstehenden Institution der katholischen Kirche zu trennen.

So kritisieren wir als Sozialist*innen mit unserem materialistischen Geschichtsverständnis zwar die grundlegende Funktion von religiösem Glauben, allerdings nicht den an sich religiösen Menschen. Die deutsche Kommunistin Rosa Luxemburg schreibt in ihrem Text „Kirche und Sozialismus“ beispielsweise: „Die Sozialdemokraten bemühen sich, die Arbeiter zum Kampf gegen das Kapital zu mobilisieren und zu organisieren, das heißt zum Kampf gegen die Ausbeutung der Unternehmer […] aber niemals ermuntern die Sozialdemokraten die Arbeiter zum Kampf gegen die Geistlichkeit und niemals versuchen sie, ihnen den religiösen Glauben zu nehmen. Im Gegenteil! Die Sozialdemokraten halten sich bei uns wie auf der ganzen Welt an den Grundsatz, daß Gewissen und Überzeugung des Menschen heilig und unantastbar sind. Jedem steht es frei, den Glauben und die Überzeugung zu haben, die ihn glücklich machen. Niemand darf die religiösen Überzeugungen der Menschen verfolgen oder beleidigen.“[6]

Dem religiösen Glauben stehen aber die Glaubensinstitutionen gegenüber, die einer fundamentalen Kritik bedürfen. In Österreich hat vor allem die Glaubensinstitution der Katholischen Kirche eine massive politische Macht. So gilt auch heute zum Beispiel noch das Konkordat aus dem Jahr 1934 als Relikt des Austrofaschismus. In diesem werden der Kirche nicht nur Verwaltungsrechte wie die Abgabenhoheit zugesichert, sondern auch der Staat wird zum Erhalt der theologischen Fakultäten verpflichtet.[7] Gleichzeitig ist die Kirche unter den zehn reichsten Privateigentümern in Österreich: Von Zeitungen bis zu Unternehmen und Wohnungen über Sozialleistungsorganisationen bis hin zur Internetplattform Willhaben. Das Vermögen der Katholischen Kirche in Österreich beläuft sich auf über 4 Milliarden Euro.[8]

Aber Glaubensinstitutionen sind nicht nur wegen ihrer faktischen politischen und monetären Macht im Kapitalismus zu kritisieren, sondern – und vor allem – auch wegen ihrer machterhaltenden Funktion von eben diesem Wirtschaftssystem. Mit den Analysen des italienischen Sozialisten Antonio Gramsci sehen wir, dass sich ein Wirtschaftssystem wie der Kapitalismus nur am Leben erhalten kann, wenn zu diesem System innerhalb der Gesellschaft ein gewisser Grad an Zustimmung besteht. Dies bezeichnet Gramsci als Hegemonie. Diese Hegemonie wird zum einen mit Zwangsmitteln wie der Polizei oder Strafgesetzen hergestellt, und andererseits mit Instrumenten, die auf eher niederschwelliger Ebene Zustimmung zum vorherrschenden System herstellen, wie beispielsweise Medien, Bildungsinstitutionen. So wird der Staat nach Gramsci in eine politische Gesellschaft und eine Zivilgesellschaft eingeteilt.

Mit diesem Staatsverständnis liegt die Funktion der Kirche auf der Hand: Sie ist heute Teil der Zivilgesellschaft und damit ein Machtfaktor der herrschenden Klasse. Die Kirche stellt Zustimmung zum Kapitalismus her und ist damit ein hegemoniales Instrument. Sie profitiert selbst vom System der Ausbeutung der Lohnabhängigen, wie ihr immenses Vermögen in Österreich allein zeigt, und stand auch historisch (beispielsweise Ablasshandel) nicht auf der Seite der Ausgebeuteten.

Rosa Luxemburg sieht hier zurecht ein widersprüchliches Verhältnis zwischen dem christlichen Glauben und der Vorgehensweise der Kirche: „Auch dafür – das muß jeder zugeben – müßten die Priester die Sozialdemokraten nur segnen, da doch Christus, dessen Diener die Priester sind, gesagt hat: „Was ihr diesen Geringsten tut, das tut ihr mir.“ Statt dessen sehen wir aber, daß die Geistlichkeit die Sozialdemokraten exkommuniziert und verfolgt und den Arbeitern zuredet, ihr Los geduldig zu ertragen, das heißt sich geduldig von den Reichen – den Kapitalisten – ausbeuten zu lassen.“

Als Sozialist*innen haben wir, nach gründlicher Betrachtung der Lebensumstände der Menschen, das Ziel das Leben der Arbeiter*innen zu verbessern – in allen Lebensbereichen. Natürlich können wir auf ein Paradies nach dem Tod hoffen; aber wir könnten auch morgen die Welt noch besser machen, als es ein Paradies je sein könnte. 

 

Anmerkungen

[1] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/infografik-tag-der-weltreligionen-100.html

[2]http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm[378]

[3] https://oe1.orf.at/artikel/649476/Karl-Marx-und-die-Religion#:~:text=%22Die%20Religion%20ist%20der%20Seufzer,erst%20eine%20Interpretation%20durch%20Lenin.

[4] Marx sieht hier aber einen fehlenden Materialismus, siehe Thesen über Feuerbach: http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm

[5] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1905/12/religion.html

[6] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1905/xx/kirche.htm

[7] https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009196

[8] https://kontrast.at/vermoegen-katholische-kirche-oesterreich/