Pro Zentralstaat: In Vielfalt vereinter

Clarissa Trummer

Die meisten von uns sind mit offenen Grenzen aufgewachsen; wir haben eine gemeinsame Währungsunion mit dem weltweit entwickeltesten Binnenmarkt und können auf Reisen gratis surfen und telefonieren. All das sind Errungenschaften der EU; Errungenschaften für die wir dankbar sein können – und auch müssen!

Ein düsteres Erwachen

Die gesellschaftliche Einstellung zu dieser Thematik sieht bisweilen düster aus. Dies nicht ohne Grund: So fasste Mercedes Echerer, eine ehemalige österreichische Abgeordnete im Europäischen Parlament, zusammen:

“In Österreich hat es schon fast traurige Tradition, die EU für beinahe jedes Problem verantwortlich zu machen, besonders im Wahlkampf. Einige Kampagnen offenbaren ein verzweifeltes Verlangen, sich zugunsten nationaler Belange für etwas einzusetzen - auf Kosten der EU.”

Wir alle haben das Anpatzen und Diffamieren in der jüngsten Geschichte miterlebt: Wir sahen es, wenn sich der Bundespräsidentschaftskandidat Walter Rosenkranz - den immerhin starke 17,7% der Wähler*innen unterstützten -  sich im September 2022 für eine Volksabstimmung zum EU-Austritt aussprach -Zitat: “Das Projekt Europa wird scheitern”. Auch von linker Seite wird die EU durchaus kritisch betrachtet .Wir sehen es, wenn Teile der KPÖ regelmäßig den EU-Boykott propagieren. 

Die Einstellung der Bevölkerung dazu? Die Zahl der EU-Austrittswilligen schellt in die Höhe – und war das letzte Mal so hoch vor sechs Jahren - in einer Zeit, in der damalige Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer der EU-kritischen Partei FPÖ beim zweiten Wahlgang 49,65% erreichte.

Wer wissen möchte, ob ohne EU wirklich alles besser ist, kann gerne einen Blick ins Vereinigte Königreich werfen: Nach einem Last-Minute-Abkommen, um totales Handelschaos zu verhindern, folgten „Personalengpässe, unterbrochene Lieferketten und weniger Auswahl an europäischen Produkten.“ (Sawicki 2022). Von nun an standen geschlossene Tankstellen, Fischereistreiten und leere Supermarktregale auf der Tagesordnung (vgl. Sawicki 2022). Die Person, die derartige Strukturlosigkeit besser findet, ist wohl schwer zu finden…

 

“Du möchtest eine EU-weite Krankenversicherung und einen EU-weiten, relativ angepassten Mindestlohn? Du möchtest Klimaschutz in einer europäischen Verfassung? Du möchtest Frontex reformieren? Mit der EU-Regierung erstmals aufgrund von höherer Durchsetzbarkeit durch EU-weite Möglichkeiten denkbar.”

Dieselben Baustellen, neue Lösungen

All dies heißt natürlich nicht, dass Kritik an der EU nicht gerechtfertigt ist; im Gegenteil: 

Der Weg zu einer egalitären EU, einer sozialen, nachhaltigen und solidarischen EU -

der Weg, den wir uns alle wünschen, wird ein langer sein. Ein Weg, auf dem noch viel Arbeit vor uns liegt. Jedoch: Ohne Kritik kein Fortschritt! Diese erntet die EU im Überfluss für das Einstimmigkeitsprinzip samt schleppender Umsetzung. Also Schluss mit langwierigen Verfahren und nicht zufriedenstellenden Kompromissen! Die Lösung? Eine handlungsfähige europäische Regierung mit Staatsoberhaupt und Verfassung, in der die Grund- und Menschenrechte als gemeinsam vertretene Werte niedergelegt sind – als europäischer Zentralstaat.

Du möchtest eine EU-weite Krankenversicherung und einen EU-weiten, relativ angepassten Mindestlohn? Du möchtest Klimaschutz in einer europäischen Verfassung? Du möchtest Frontex reformieren? Mit der EU-Regierung erstmals aufgrund von höherer Durchsetzbarkeit durch EU-weite Möglichkeiten denkbar. Durch die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips – ein Relikt wortwörtlich aus dem letzten Jahrhundert – können ohne Konsenszwang raschere Ergebnisse erzielt werden. Mithilfe von effizienten und demokratisch legitimierten Mehrheitsentscheidungen in Richtung Mut zum Fortschritt.

Menschenrechte in Wien, Brüssel und überall

Gemeinsam an einem Strang ziehen; denn: Das Chaos hat ein Ende! Wenn alle Ebenen Mitverantwortung für das Gesamtsystem tragen, herrscht eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen der EU, den Mitgliedsstaaten und Regierungen auf den verschiedenen politischen Ebenen vor. Mit einer zentralstaatlichen Ordnung wird so auch die Zuständigkeit in Außen- und Sicherheitspolitik klar festgelegt: Durch ein gemeinsames Militär mit zusammengelegten Streitkräften wären die Vereinigten Staaten von Europa unabhängiger von den USA und könnten – wie etwa im Fall der Unterstützung der Ukraine – auf eine klarere und konsequente gemeinsame Strategie setzen. Mehr noch: Mittels der in der europäischen Verfassung festgeschriebenen Menschenrechte wäre der europäische Zentralstaat gezwungen, die menschenunwürdigen Zustände samt systematischen Pushbacks an den EU-Außengrenzen zu unterbinden. Nicht zu vergessen sind außerdem die Auswirkungen auf bisherige Mitgliedsstaaten: So wäre Ungarn als Demokratie mit deutlich eingeschränkter Medienfreiheit zum Beispiel gezwungen, einige Reformen zu ergreifen, um auch in der Praxis den humanitären Rechtsstaat darzustellen, der er sein sollte.

 

Ein besseres Leben für alle?

Zusammen wären die Vereinigten Staaten von Europa nicht nur sicherheitspolitisch ein höher geachteter Global Player mit international mehr Gewicht, sondern auch vor allem in Hinblick auf Fiskalpolitik. Natürlich sollte der geschlossene Auftritt anderen Ländern gegenüber jetzt schon funktionieren; klappt aber nicht so besonders gut. Die Lösung? Mehr Europa; nicht weniger. Mit einer oder einem gemeinsame*n Regierungschef+in, welche*r vom Parlament mit Mehrheit gewählt wird, ist das wesentlich einfacher -insbesondere im Krisenmanagement. So auch im Falle der Inflation mitsamt der Stabilisierung des Euro, was nicht zuletzt auch dabei helfen würde, zusätzliche Finanzkrisen vorzubeugen. Doch es geht noch weiter: Mit einer eigenen Steuereinnahme, welche das alleinige Entscheidungsrecht des föderalistischen Europas ist, rückt auch die europäische Reichensteuer ins Blickfeld, welche ohnehin schon längst überfällig ist.

Theoretisch wäre dieses oder andere Projekte in der Europäischen Union, in der wir hier und heute leben, jetzt schon umsetzbar; trotzdem steht und fällt alles mit derselben altbekannten Baustelle: Dem Einstimmigkeitsprinzip. Mit einer europäischen Regierung allerdings ist deutlich mehr Handlungsspielraum gegeben. Nun stellt sich aber die alles entscheidende Frage: Ist das denn auch realistisch? Dass der Weg ein leichter wird, hat niemand gesagt. Dennoch: „Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“ (Lucius Annaeus Seneca)

Spricht man mit Sozialist*innen, hört man oft etwas wie: „In der Praxis find‘ ich die EU jetzt nicht so gut; ich mag nur das, was sie sein könnte“. Also lasst und noch ein Stück des Weges gemeinsam gehen. Lasst uns den Grundstein für ein vereinigtes, solidarisches Europa legen.

Verändern wir die EU, sie braucht es!

 

Quellen:

Wir Sind Europa (2019): Beispiel Harvard-Zitierweise: Internetquellen, Beispielwebsite, [online] https://www.scribbr.de/harvard-zitierweise/internetquellen/ [abgerufen am 24.12.2017].

OE24.TV (2022): Rosenkranz: "Volksabstimmung über EU-Austritt? Warum nicht!" #shorts [YouTube], https://www.youtube.com/watch?v=2axukjöjlslierj. https://www.youtube.com/watch?v=Z6nzRIZ3h3k

Koller, Andreas (2022): Walter Rosenkranz: "Das Projekt Europa wird scheitern", sn, [online] https://www.sn.at/politik/innenpolitik/bp-wahl-2022-walter-rosenkranz-das-projekt-europa-wird-scheitern-126967648 [abgerufen am 09.11.2022].

Agenturen (2022): Umfrage: Zahl der EU-Austrittswilligen in Österreich steigt wieder, Kurier, [online] https://kurier.at/politik/inland/umfrage-zahl-der-eu-austrittswilligen-steigt-in-oesterreich-wieder/402195915 [abgerufen am 09.11.2022].

Sawicki, Rebecca (2022): Zum Queen-Jubiläum: Wie geht es Großbritannien nach dem Brexit?, watson, [online] https://politik.watson.de/international/analyse/267862618-zum-thronjubilaeum-der-queen-wie-geht-es-grossbritannien-nach-dem-brexit [abgerufen am 11.11.2022].