Es gibt keine "linken" Influencer

Jakob Rennhofer

Wenn Influencer versuchen, sich “feministisch” oder gar links zu geben, dann ist äußerste Vorsicht geboten. Denn dahinter steckt zumeist kein selbstloses Engagement, sondern reine Profitlogik. Dazu ist vielen von ihnen jedes Mittel Recht - auch die Reproduktion sexistischer Ideologien bzw. von Geschlechterstereotypen. 

Was sind Influencer?

“Influencer” ist schon längst kein Begriff mehr, der nur innerhalb einer neuen Jugendkultur bekannt wäre, ganz im Gegenteil. Medien und Politiker*innen aller Coleur verwenden den Begriff, sogar bei der Familienfeier kann es vorkommen, dass plötzlich über Influencer gesprochen wird. Die inflationäre Verwendung des Begriffs führt jedoch auch zwangsläufig zu seiner Bedeutungslosigkeit. Ist jede Person, die mit ihren Inhalten eine große Anzahl an Leuten im Internet erreicht, bereits ein Influencer? 

Nein. Das sagen zumindest Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt, die vor etwas mehr als zwei Jahren ihre kapitalismuskritische Studie “Influencer. Die Ideologie der Werbekörper” veröffentlicht haben. Folgt man den beiden Autoren, würde der Begriff völlig an Bedeutung verlieren, wenn man ihn auf alle Personen des öffentlichen Lebens im Netz anwenden würde, zudem kommt der Begriff ja ursprünglich aus dem Marketing. Sie schreiben:

“Der Influencer, von dem man im Marketing seit 2007 spricht, ist stattdessen zu verstehen als eine Person, die in den sozialen Medien zu Bekanntheit gelangt ist und sowohl eigene Inhalte als auch Werbe-Content für Produkte aller Art (von Kleidung über Fitness- und Kosmetikprodukte bis hin zu Finanzdienstleistungen) in Form von Posts, Fotos oder Videos veröffentlicht. Der Influencer ist in der Regel nicht Botschafter einer einzigen Marke, sondern bewirbt verschiedene Produkte. Dabei ist entscheidend, dass er diese möglichst eng mit der eigenen Person verknüpft, indem er zeigt, wie er sie verwendet, und sich zugleich als Konsument und Präsentator inszeniert.”¹

Im Folgenden möchte ich mich dieser Definition weitgehend anschließen. Es soll also keineswegs darum gehen, all jene Personen, die “Content” produzieren, pauschal zu kritisieren. 

 

Kapitalismus und Öffentlichkeit

Bevor wir uns nun direkt mit Influencern beschäftigen, lohnt es sich, einen Blick auf die Kulturgeschichte des jüngeren Kapitalismus zu werfen. In der Zeit des sogenannten Fordismus, wie er sich in den meisten westlichen Ländern entweder nach dem Ersten oder nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hat, war die Kultur der Selbstdarstellung noch durch die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten bestimmt. Der Soziologe David Riesman² sprach in diesem Zusammenhang vom other-directed character, der sich zwar durch den Blick anderer Menschen definierte, sich aber dennoch - im Gegensatz zu heute - auch durch seine Unauffälligkeit profilierte. Es ging nicht darum, ein Leben zu leben, das sich von allen anderen unterscheidet, sondern genau darum, ein Leben wie alle anderen zu leben. Die Entstehung des other-directed characters muss natürlich im Lichte des fordistischen Akkumulationsregimes betrachtet werden, das durch serielle Massen-produktion bzw. Massenkonsum gekennzeichnet war. Es war also nicht der neueste Audi, der unbedingt in der Garage stehen musste, sondern es reichte auch ein VW Golf, um den bescheidenen Wohlstand einer öffentlich propagierten neuen Mittelschicht zu repräsentieren. 

Das fordistische Akkumulationsregime geriet in den 1970er Jahren erstmals in die Krise. Zum Einen aufgrund der Ölkrise und des Phänomens der Stagflation, zum Anderen aber auch aufgrund der kulturellen Veränderungen, die sich nach 1968 aufgetan haben. Wenn das Öffentliche und das Private im Fordismus noch voneinander entkoppelt schienen, konstatierten Feminist*innen (völlig zurecht), dass auch das Private politisch sei. Mit Beginn der 1980er Jahre trat der Neoliberalismus dann seinen Siegeszug an und ersetzte die keynesianistische Wohlfahrtspolitik der Nachkriegsjahre nach und nach durch Privatisierungen, den Abbau des Sozialstaates, Bekämpfung der Gewerkschaften und den Rückzug des Staates aus der Wirtschaftspolitik bei gleichzeitigem Ausbau des staatlichen Sicherheitsapparats. 

“Es gibt kein “öffentliches Interesse” mehr, der rein individuelle Zugang zu den Dingen wird totalisiert und zum Maß aller Dinge erhoben."

Dieses neue Akkumulationsregime benötigte freilich auch ein neues gesellschaftliches Subjekt. Wenn wir zu der “fordistischen” Trennung zwischen “Öffentlichem” und “Privatem” zurückkehren, müssen wir uns die Frage stellen, wie es nun im Postfordismus darum steht. Ende der 1980er Jahre verfasste der amerikanische Soziologe Richard Sennett³ sein Werk “Verfall und Ende des öffentlichen Lebens”. Für Sennett gab es die Unterscheidung zwischen “öffentlich” und “privat” längst nicht mehr, vielmehr hätten wir es nun mit einer Überlappung der beiden Sphären zu tun. Es gibt kein “öffentliches Interesse” mehr, der rein individuelle Zugang zu den Dingen wird totalisiert und zum Maß aller Dinge erhoben. Hier spricht Sennett von einer “Tyrannei der Intimität”. Es gibt nichts mehr, was ausschließlich “privat” oder “öffentlich” wäre, alles was privat ist, ist auch öffentlich und vice versa. 

Den nächsten analytischen Schritt ging etwa drei Jahrzehnte später der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz⁴ in seiner Studie “Die Gesellschaft der Singularitäten”. Dort untersuchte Reckwitz - analog zu der Unterscheidung zwischen “öffentlich” und “privat” - die Gegensätzlichkeit zwischen dem “Allgemeinen” und dem “Besonderen”. Während das 20. Jahrhundert durch einen gesellschaftlichen Fokus auf das “Allgemeine” bestimmt wurde, wären es nun besondere “Singularitäten”, die das Soziale beherrschen würden. 

Die Tyrannei der Authentizität

Was hat dieser - zugegebenermaßen etwas abstrakte -  soziologische Exkurs nun mit Influencern zu tun? Influencer vergiften die ”öffentliche” Sphäre mit Aufrufen zur (privaten) “Authentizität”. Sie zeigen ihren besonders authentischen, zumeist dekadenten Alltag, den sich 90% der Bevölkerung niemals leisten könnten, und koppeln ihn an ein Aufstiegsversprechen - “so wie ich kannst du auch leben, wenn du nur dein Mindset änderst”. Im nächsten Schritt werden dann meistens Werbekooperationen und eigene Produkte vorgestellt, deren Erwerb einen ersten Schritt in diese Richtung einleiten würde.

Diese Verbindung zwischen “Authentizität” und Warenkonsum ist im gegenwärtigen Kapitalismus notwendig, um im in einer Zeit, in der den Menschen immer weniger zum Leben bleibt, dennoch Profit durch den Verkauf von Waren generieren zu können. Das ist auch der Grund, warum Influencer*innen große systematische Probleme immer auf die Ebene des Individuums herunterbrechen müssen - Systemkritik ist für sie nur dann profitabel, wenn sie mit der “Lifestyle”-Komponente eines Produktes verknüpft werden. Influencer werden nie dazu aufrufen, an der Frauentags-Demo am 8.März teilzunehmen, sondern ihr “I’m a feminist”-T-Shirt um 50€ zu kaufen. 

Das Geld, das junge Menschen für den käuflichen Erwerb ihrer Individualität ausgeben müssen, ist zumeist nicht in den eigenen Geldbörserln zu finden. Der Politikwissenschaftler Colin Crouch hat schon vor Jahren festgestellt, dass wir in einem “neoliberalen Keynesianismus” leben - da der Staat keine Schulden mehr aufnehmen möchte, um einen Wohlfahrtsstaat sicherzustellen, der alle Menschen ökonomisch dazu befähigt, gewisse Waren zu kaufen oder Tätigkeiten in Anspruch zu nehmen, der Kapitalismus jedoch auf genau diese Befähigung angewiesen ist, sind es nun die Individuen selbst, die Klein- und Kleinstkredite aufnehmen müssen. Kreditplattformen wie “Klarna”, in der sich junge Menschen, mit wenig oder gar keinem Einkommen, in wenigen Minuten ihren Einkauf finanzieren lassen können und dadurch schleichend in die Schuldenfalle geraten, sind der verlängerte Arm der Influencer. Es ist daher auch kein Wunder, dass absurde Trends wie #KlarnaSchulden auf TikTok entstehen, wo junge Menschen mit ihren Schulden “prahlen”.⁵

Backlash, Sexismus & Kulturkampf

Weil es auf dem Terrain politökonomischer Kämpfe für Influencer nichts zu “gewinnen” (im wahrsten Sinne des Wortes) gibt, wenden sich Influencer Themen wie dem Feminismus, dessen politökonomische Dimension von den Influencern systematisch geleugnet wird, zu. Natürlich hat das nichts mit einem materialistischen, realitätsbezogenen, progressiven - oder insgesamt wünschenswerten - Feminismus zu tun. Die Etikette “Feminismus” ist jedoch für ein junges Publikum, das Strukturen patriarchaler Unterdrückung spürt und für feministische Kämpfe offen ist, verführerisch. Das Interesse der Influencer ist hier freilich, dieses bereits vorhandene feministische Bewusstsein der jungen Menschen so zu manipulieren, dass es perfekt in die patriarchale Ordnung der Gegenwart passt und das Potenzial für feministische Kämpfe durch neoliberale Ideologie ersetzt wird. 

Ein Beispiel dafür ist der sogenannte “Girlboss-Feminismus”. Darunter wird eine Strömung auf Social Media verstanden, die eine Aneignung männlicher wirtschaftlicher Allmachtsfantasien unter Frauen propagiert. Feminismus wird so zum Aushängeschild sozialer Ungleichheit im ausgehenden Neoliberalismus degradiert. Rebecca Winther schreibt in der Frankfurter Rundschau dazu:


“Ich rede von dem sogenannten Girlboss-Feminismus: einem neoliberalen Versuch, sich durch Aneignung eines feministischen Sprachgebrauchs neu zu erfinden. Der gesellschaftskritische Aspekt, der dem Feminismus innewohnt, wird somit vollständig entschärft und durch eine binäre Vorstellung von Frauen in Führungspositionen ersetzt. Als Girlbosse müssen wir (Frauen) unsere Hobbys profitabel machen, wir müssen nur schwer arbeiten und wir werden gewinnen. Gewinnen heißt hier so etwas wie, Chef:in, Boss des eigenen Lebens oder sogar eines größeren Unternehmens zu werden. Egal. Alles erreichbar mit der richtigen Attitude. Girls can do anything. So etwas wie systemische oder intersektionale Unterdrückungen gibt es in der Ideologie des neoliberalen „Feminismus“ nicht. Fehlen wird bei den Betroffenen selbst verortet, obwohl mittlerweile klar sein sollte, dass manchen mehr Hürden im Weg stehen als anderen.”⁶

"Das Interesse der Influencer ist hier freilich, dieses bereits vorhandene feministische Bewusstsein der jungen Menschen so zu manipulieren, dass es perfekt in die patriarchale Ordnung der Gegenwart passt und das Potenzial für feministische Kämpfe durch neoliberale Ideologie ersetzt wird."

Neben den pseudofeministischen Anstrichen, die sich so manche Influencer geben, gibt es natürlich eine breite Palette an Influencern, die gerade von einer Rückkehr zu alten Geschlechterstereotypen und Sexismen profitieren. Der zutiefst misogyne Influencer Andrew Tate, der wegen Menschenhandel und Vergewaltiung angeklagt wurde und bis vor kurzem in Rumänien inhaftiert war, propagiert das Bild einer natürlichen Unterlegenheit der Frauen - sie seien bloße Objekte, die ausschließlich der Befriedigung männlicher Gelüste dienen würden. Auch er macht diese widerwärtige Weltanschauung zum erfolgreichen Profitmodell - mit teuren Online-Coachingkursen möchte er Männern zeigen, wie sie wieder zu “echten” Männern werden können - mit viel Geld, Autos und unterwürfigen Frauen. Dank des TikTok-Algorithmus, der konstitutiv der Aufmerksamkeits-Ökonomie verpflichtet ist, wird dieser sexistische Dreck auf die Smartphones Millionen junger Männer gespült - mit verheerenden Folgen.

Wir haben es im Moment auf Social Media, dank der Vorherrschaft der Influencer, zum großen Teil mit einer Ideologie-Maschinerie zu tun, bei der einige reiche Menschen von der Herstellung sexistischen, neoliberalen und insgesamt - marxistisch gesprochen - falschen Bewusstseins weiter profitieren. Darüber hinaus werden politökonomische Kämpfe durch die permanente Zurschaustellung der eigenen Authentizität und der “Totalisierung” der eigenen Gedanken, Emotionen & Empfindlichkeiten zur einer reinen Identitätsfrage degradiert und damit dem dämlichen Kulturkampf, den rechte und konservative Kräfte gerne mit uns führen möchten, ausgeliefert. Für die Linke muss der Auftrag also sein, die Menschen dort zu mobilisieren, wo sie sich aufhalten (so bspw. auf Social Media) - das kann jedoch nur passieren, wenn wir diesen ideologischen Verblendern dort den Platz wegnehmen. 

 

Anmerkungen

¹ Nymoen, Ole; Schmitt, Wolfgang M. (2021): Influencer. Die Ideologie der Werbekörper. Berlin: Suhrkamp. S. 8.

² Riesman, David (1958): Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Hamburg: Rowohlt.

³ Sennett, Richard (1986): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main: Fischer.

⁴ Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.

https://www.puls24.at/news/chronik/tiktok-trend-klarnaschulden-ratenzahlung-als-schuldenfalle/312431

https://www.fr.de/wirtschaft/gastwirtschaft/feminismus-im-kapitalismus-girls-can-do-anything-91227251.html