Die Linke und die EU - Auswege aus einem politischen Dilemma

Seit jeher ist die Europäische Union ein kontroverses Thema in linken Debatten. Doch selbst die größten europäischen Romantiker können nicht leugnen, dass die EU in ihrer aktuellen Form einige untragbare Zustände mitzuverantworten hat. Auch für die österreichische Linke stellt sich - nicht zuletzt auf Basis dieser Analysen - unweigerlich die Frage, welche Strategien konkret anwendbar sind, um die Schattenseiten der EU und ihrer Institutionen trockenzulegen. 

Das Votum fiel deutlich aus. Rund 66,6% der Österreicher*innen votierten bei der Volksabstimmung im Juni 1994 für den EU-Beitritt. Mit dem 1. Jänner 1995 trat Österreich schließlich der Europäischen Union bei. Die Debatte darüber ist jedoch bis heute lebendig geblieben. Zwar tritt außer Teilen der FPÖ keine parlamentarisch verankerte Partei für einen EU-Austritt Österreichs ein, die Wut auf- oder das Unverständnis für “Brüssel” ist in der tagespolitischen Debatte allerdings nicht zu übersehen. 

Das mag daran liegen, dass “Brüssel” in der österreichischen Innenpolitik als universell einsetzbarer Sündenbock verwendet wird. Unabhängig davon, ob der Mangel tatsächlich dort behoben werden könnte oder nicht. An dieser Stelle ist jedoch eine wichtige Analyse zu ziehen. Auch die EU ist keine von Naturgesetzen aus mit Eigenschaften ausgestattete Institution, sondern stets das Ergebnis eines politischen Machtprozesses. Es lohnt sich daher besonders für uns als Sozialist*innen, die Frage nach Sinn und Unsinn der EU aus einer Klassenperspektive zu stellen, um die Prozesse, ihre Auswirkungen und die öffentliche Meinungsbildung dahinter zu verstehen.

 

Der Mythos des europäischen Friedensprojektes

Folgt man liberalen Kommentator*innen, ist die Europäische Union als “Friedensprojekt” grundsätzlich über jede Kritik erhaben. Durch die Verschränkung der europäischen Wirtschaften nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Grundlage für ein friedliches Zusammensein zwischen den einstigen Erzfeinden (vor allem Deutschland und Frankreich waren damit gemeint) gelegt, da sich Kriege wirtschaftlich nicht mehr rentieren würden. Auch auf der Homepage des österreichischen Bundespräsidenten findet sich jene Argumentation wieder.[1] Das weitere Zusammenwachsen der europäischen Staaten im institutionellen Rahmen der EU auf Basis, der von ihr propagierten freien Märkte würde dieser Entwicklung weiter Folge tragen und sei daher zu begrüßen.

Dieses Argument lohnt sich einer näheren Betrachtung. Unbestritten ist: Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs führten zu einem distanzierten Verhältnis zum Krieg. Jeder Krieg (vor allem jene, die potenziell auf eigenem Territorium geführt werden) muss von der herrschenden Regierung, die ihn befiehlt, auch gegenüber der eigenen Bevölkerung argumentiert und durchgesetzt werden, was in dieser Zeit mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre.

 

“Der Mythos der europäischen Gemeinschaft auf Basis eines gemeinnützigen Friedensprojektes ist daher vor allem ein diskursiv verwendetes Argument für die Absicherung der eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Teile der Bevölkerung.”

Dennoch ist dieser Erklärungsansatz alleine ungenügend, wenn nicht gar verblendend. Kriege werden nicht verhindert, in dem Wirtschaften so eng verschränkt werden, dass sich ein Krieg nicht mehr lohnen würde. Der russische Einmarsch in der Ukraine verdeutlicht dies einmal mehr. Ganz im Gegenteil, besonders als Sozialist*innen wissen wir: Kriege werden aus geopolitischen wie wirtschaftspolitischen Gründen geführt. 

Konkret ist die Kooperation der westeuropäischen Staaten daher nicht per se auf die Verschränkung ihrer Wirtschaften zurückzuführen, sondern auf zwei andere Parameter. Einerseits standen die einstigen geopolitischen Gegner in allen geopolitisch relevanten Fragen auf einer Seite. Die neue globale Auseinandersetzung “Ost gegen West” schweißte sie hierbei zusammen. Andererseits hatte die herrschende Klasse in allen betreffenden Staaten genügend andere Möglichkeiten, um ihre Kapitalinteressen durchzusetzen (etwa durch eine schrittweise Öffnung der Märkte) und keine Notwendigkeit, ihre herrschende Position durch einen Krieg gegeneinander abzusichern. Auch dass die betreffenden Staaten dadurch per se friedlicher geworden wären, ist mit einem raschen Blick in die Geschichtsbücher eindeutig zu widerlegen. Man denke an die teils äußerst blutigen Befreiungskämpfe des globalen Südens gegen ihre europäischen Kolonialherren oder völkerrechtswidrige Invasionen wie etwa im Irak, in denen Staaten der EU ihre strategischen Interessen in “gewohnter Manier” mit Waffengewalt durchzusetzen versuchten.

Der Mythos der europäischen Gemeinschaft auf Basis eines gemeinnützigen Friedensprojektes ist daher vor allem ein diskursiv verwendetes Argument für die Absicherung der eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Teile der Bevölkerung. In den vergangenen Jahrzehnten neoliberaler Mehrheiten ist das vor allem auch eng mit der Erschließung von Absatzmärkten verbunden.

Die EU als neoliberales Gruselkabinett

Auch wenn es in der öffentlichen Debatte oft nicht so scheint, gilt es uns bewusst zu machen, dass die Ausrichtung der EU, vor allem in tagespolitischen Fragen[1], keineswegs in Stein gemeißelt ist. Sie ist die Summe der Willensanstrengungen der einzelnen europäischen Regierungen. In vielen Aspekten, etwa wenn es um die effektive Bekämpfung von Steuerflucht oder um Lösungen zur menschlichen Behandlung von Schutzsuchenden geht, scheitern Lösungen daher im eigentlichen Sinne nicht an “der EU”, sondern an der mangelnden Bereitschaft oder dem mangelnden Willen der Regierungen der Mitgliedstaaten, Lösungen zu finden. Auch die österreichische Bundesregierung sticht hier immer wieder als Bremser heraus.

Betrachtet man die Zusammensetzung jener Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten, so wundert es uns nicht, dass die Entwicklung der EU sich mehr und mehr zu einer Institution entwickelt hat, die die Paradigmen einer neoliberalen Gesellschafts- und Wirtschaftsform propagiert und nach außen wie nach innen durchzusetzen versucht. Bereits zum Zeitpunkt des EU-Beitritts Österreichs waren diese Tendenzen absehbar und wurden heftig debattiert, Ende der 1980er-Jahre sprach der damalige SJ-Verbandsvorsitzende Alfred Gusenbauer von einer “strategischen Jahrhundertentscheidung.”[2] Nicht zu Unrecht befürchtete man einen Abbau sozialer Standards mit allen negativen Folgen für die arbeitende Bevölkerung. Gusenbauer warnte weiters: “Die in vielen national nicht durchsetzbare Deregulierung im Interesse der Konzerne wird so durch die EG-Tür transportiert.”[3]

Knapp 30 Jahre später haben sich die damaligen Befürchtungen, auch durch den weiteren Siegeszug des Neoliberalismus und die Niederlagen der politischen Linken, bewahrheitet. Immer mehr zeigt sich, dass von einer “Gemeinschaft der Arbeiter*innen”, die zu Gründungszeiten von Teilen der politischen Linken, etwa in der SPD propagiert wurde, wenig übrig ist. Ganz im Gegenteil: Das institutionelle Gefüge der EU in ihrer heutigen Form ist zu einem Spielball der Reichen und Mächtigen verkommen, der gemeinsame Markt läuft unter der Maxime der maximalen internen wie externen Deregulierung.

Auch in den Europäischen Verträgen, die die politische Grundlage der EU darstellen und nur mit der Zustimmung aller Mitgliedstaaten geändert werden können, ist die neoliberale Denkweise einbetoniert und wird mit der institutionellen Macht der großen Regierungen der EU zum Wohle ihrer eigenen Banken und Konzerne exekutiert. Zwei Beispiele werden dies in weiterer Folge verdeutlichen.

Im Zuge der Finanzkrise Ende der 2000er Jahre rutschte Griechenland in eine tiefe Krise, eine Staatspleite drohte. Eine demokratisch kaum legitimierte “Troika”, bestehend aus der Europäischen Zentralbank (EZB), dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und Vertreter*innen der Europäischen Kommission diktierte auf Basis der neoliberalen Agenda harte Sparprogramme (Austeritätspolitik) für die griechische Bevölkerung. Diese führte nicht nur zu einem massiven Niedergang ökonomischer Parameter wie der Kaufkraft, sondern auch zu einem nur sehr schwer rückgängig machbaren Ausverkauf der öffentlichen Infrastruktur. Anstatt die Klassengesellschaft als Ausgangsbasis der Analyse zu nehmen, wurde der arbeitenden Bevölkerung Griechenlands die Folgen der Entwicklungen umgehängt. Dass Milliarden an “Hilfsgeldern” einzig und alleine dafür verwendet wurden, durch Spekulation künstlich in die Höhe getriebene Zinsen bei deutschen und französischen Banken zu zahlen, fand kaum Erwähnung.

Auch außerhalb der EU führt die radikal-neoliberale Agenda zu sozialen Verwerfungen zugunsten der herrschenden Klasse Europas. Deutlich wird das am Beispiel der europäischen Exportsubventionen. So wird etwa der westafrikanische Geflügelmarkt von subventionierten Fleischresten aus Europa überschwemmt, die, so absurd das klingt, im Verlauf in weiterer Folge billiger sind, als das “Fleisch von vor Ort”. Für die europäischen Konzerne ist das eine staatlich geförderte Erschließung eines Marktes, die gleichzeitig dazu führt, das lokal gewachsene wirtschaftliche Strukturen nicht mehr konkurrenzfähig sind und Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren.

 

“Die auch seitens der EU-Institutionen viel beschworene Solidarität innerhalb der EU beschränkt sich stets auf die Solidarität mit den Banken und den Interessen der Herrschenden!”

Umso mehr werden die Hintergründe des Handelns deutlich. Die EU nutzt wie jeder andere geopolitische Machtblock seine ökonomische Macht, um wirtschaftlichen Einfluss der eigenen Konzerne auszubauen und zu sichern. Weigern sich Länder diesem Diktat zu unterwerfen, drohen Isolation und wirtschaftliche Sanktionen, die die Lebensgrundlage nehmen.

Die mit dieser Politik zwangsläufig verbundene globalisierte Profitmaximierung führt zu großen globalen Verwerfungen für die arbeitende Bevölkerung in allen beteiligten Ländern, deren Anteil am Kuchen immer kleiner zu werden scheint. Die logische Folge davon sind wirtschaftliche und damit verbundene soziale Unsicherheiten, die sich in Angst, Perspektivlosigkeit und im schlimmsten Fall dem Verlassen der Heimat niederschlagen.

 

Innereuropäische Perspektiven

Aus dieser Analyse wird deutlich, dass die EU als Institution zwar nicht per se verantwortlich für die Auswirkungen des globalisierten Kapitalismus ist, jedoch den institutionellen Rahmen stellt, um diese Praktiken durchzusetzen. Dementsprechend gilt es festzuhalten: Kritik an der EU und den Auswirkungen des globalisierten Kapitalismus ist kein Ausdruck rechter Politik und kein Nationalismus, sondern ein notwendiger Bestandteil einer linken politischen Agenda. Dieses Feld darf unter keinen Umständen der politischen Rechten überlassen werden.

Ob die EU nun überflüssig ist oder nicht, ist jedoch die falsche Fragestellung. Denn die EU ist in ihrer institutionellen Prägung ein Produkt des globalisierten Kapitalismus - und nicht umgekehrt. Selbst wenn man die EU wegdenken würde, ändert sich dadurch von alleine nichts an der grundsätzlichen Struktur des Kapitalismus, etwa der geschaffenen Abhängigkeit von fragilen internationalen Lieferketten. Im Gegensatz zur politischen Rechten erkennen wir auch, dass die wahre Trennlinie in der Gesellschaft nicht zwischen dem In- und dem Ausland, sondern zwischen Oben und Unten verläuft.

Der einzige Hebel, um nachhaltige soziale Verbesserung für die arbeitende Bevölkerung zu erzielen, ist der Aufbau sozialer Bewegungen von unten, die mit gesellschaftlichen Mehrheiten ausgestattet sind und die herrschende Ordnung infrage stellen. Auch wenn dies auf den ersten Blick überflüssig erscheinen mag, schließlich ist die Wahrscheinlichkeit, in allen EU-Mitgliedsstaaten zur selben Zeit entsprechende Mehrheiten zu haben, äußerst gering. 

Doch hier gilt es, einen entscheidenden Punkt festzuhalten: Denn auch Verträge sind “nur” so lange ein relevantes Stück Papier, solange (wie im beschriebenen Fall Griechenlands) eine politische Macht dahinter steht, die mögliche Abweichungen auch politisch exekutieren kann. Ironischerweise zeigt sich das besonders am laufenden Streit bei der Verteilung und der Aufnahme von geflüchteten Menschen. Gemäß der geltenden Verträge wäre das EU-Land, auf dem Geflüchtete erstmals EU-Boden betreten, für die Aufnahme und die Abwicklung des Asylverfahrens zuständig. Die politischen Kräfteverhältnisse setzen diese Abmachungen aber seit Jahren de facto außer Kraft.

Mit ausreichend politischem Gewicht ausgestattet, ist ein Bruch der “Regeln” kein Problem. Das zeigt sich auch in vielen anderen Beispielen. So war es für die EU-Kommission kein Problem, als der neoliberale französische Präsident Emmanuel Macron 2018 ankündigte, die Fiskalregeln nicht einhalten zu können und sich mehr verschulden zu müssen, als eigentlich erlaubt wäre. Auch dass Frankreichs Schuldenquote weit über den geforderten 60% des Bruttoinlandsproduktes liegt, war bisher kaum jemandem ein Dorn im Auge.

 

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Die Geschichte ist stets das Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen zwischen Beherrschten und Beherrschenden. Diesen Grundsatz gilt es auch für unsere Positionierungen im Zusammenhang mit der EU zu betrachten. Auf keinen Fall darf Kritik an den herrschenden Verhältnissen mit nationalen Parolen und dem scheinbaren “Schutz vor dem Äußeren” beantwortet werden. Stattdessen gilt es, ausreichende politische Macht aufzubauen, um die Verhältnisse infrage stellen zu können. 

Der französische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Melénchon wandelte diese Erkenntnis in die Forderung um, die geltenden Fiskalregeln der EU als Präsident ignorieren zu wollen. Klar ist: Wenn sich in Frankreich wie in anderen wichtigen und mächtigen Ländern Europas entsprechende Mehrheiten bilden lassen, ist diese Option trotz allem vertraglichem Bauwerk der EU eine realistische Möglichkeit, um einen ersten Schritt hin zu einer internationalen Allianz im Kampf gegen die neoliberalen Verwerfungen in Europa zu setzen. 

Bis dahin gilt es alle Kräfte zu mobilisieren, um diese Mehrheiten möglich zu machen. Ob die EU im Fall jener Mehrheiten und dem entsprechenden Umbau der Gesellschaft als Institution auch in Zukunft diesen Rahmen als Teil des Überbaus füllen wird oder nicht, wird die Zeit entscheiden. Dies ist allerdings als sekundäre Frage zu betrachten. 

 

Anmerkungen:

[1] https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/europa

[2] zu vertraglichen Fragen kommen wir später

[3] SJ-Aktuell. Europa. Alternativen zum EG-Beitritt. Eine Broschüre der Sozialistischen Jugend Österreich, S. 5.

[4] ebd.