Der Marxismus im 21. Jahrhundert

Jakob Jäger

Karl Marx, ein Mann, dessen wichtigste Schriften vor über einem Jahrhundert veröffentlicht wurden, hat bis heute kaum Relevanz eingebüßt. Während Marx in Gebieten wie Philosophie, Soziologie und natürlich Ökonomie aufgrund seiner Theorien diskutiert und analysiert wird, benutzt ein großer Teil des politischen Establishments von liberal bis rechtsextrem ihn gerne als Schreckgespenst. Warum ist das so?  Welche Bedeutung hat dieser Marxismus, der noch immer von so vielen (bewusst) missverstanden wird, eigentlich im 21. Jahrhundert?

Die Welt zu Marx‘ Zeit … und heute

Um zu verstehen, in welchem Kontext Marx‘ Schriften entstanden sind, hilft es, einen kleinen Blick auf sein Leben und die damalige Zeit zu werfen. Im 19. Jahrhundert, in dem er lebte und schrieb, war der Kapitalismus, anders als heute, noch nicht weltweit verbreitet und wie eine Institution verankert, sondern breitete sich ausgehend von England gemeinsam mit der Industrialisierung zunächst in Europa aus. Karl Marx beobachtete dieses schnell expandierende Wirtschaftssystem sehr kritisch und genau. Er beschrieb durch viele Thesen, wie es funktionierte und sich auf die Verhältnisse auswirkte, in denen die Menschen lebten. Der Kapitalismus ist mit gewissen Anpassungen bis heute geblieben, genauso sind es auch Marx‘ Thesen und Analysen dazu. Dennoch haben sich die Zeiten verändert, wichtige Fragen, wie z.B. wer zur Bourgeoisie und wer zum Proletariat gehört, sind verschwommener, komplizierter geworden. Ich will darum einen Blick darauf werfen, welche Rolle marxistische Theorien heute noch spielen und welchen Handlungsauftrag sie uns geben.

 

“Während in Österreich Millionen von Menschen täglich ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen, können die Kapitalist*innen sich auf ihrem angeeigneten Kapital ausruhen. Das bedeutet, sie besitzen Grundstücke oder Immobilien, welche über die Zeit im Wert steigen, oder große Unternehmen, wo Beschäftigte über Profite ausgebeutet also dem eigentlichen Wert ihrer Arbeitskraft beraubt werden. ”

Was vom Marxismus geblieben ist

Ein wichtiges Konzept von Marx, welches bis heute zurecht Anwendung findet, ist der Historische Materialismus. Es geht dabei, wie der Name vielleicht verrät, darum, sich die materiellen Umstände zu einer gewissen Epoche als Gründe für Handlungen von Menschen anzusehen, also beispielsweise die politische, kulturelle und ökologische Lage, aber auch die Art und Weise, wie gearbeitet wird. Dieses analytische Verfahren ist bis heute geblieben, denn es erlaubt zu verstehen, wie sich Wirtschaft und Gesellschaft gegenseitig beeinflussen und dadurch in komplexen Vorgängen Muster zu erkennen. 

Eine besonders prägende und wichtige Erkenntnis, welche Marx durch den historischen Materialismus erlangen konnte, ist, dass die Geschichte der Menschheit stets eine von Unterdrückung und Ausbeutung bestimmter Klassen ist und in der aktuellen Epoche des Kapitalismus sich die Klassen der Bourgeoisie und des Proletariats gebildet hatten. Selbst die überzeugtesten Anti-Marxist*innen können nur schwer leugnen, dass diese Analyse noch immer auf unsere Wirtschaft zutrifft. Während in Österreich Millionen von Menschen täglich ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen, können die Kapitalist*innen sich auf ihrem angeeigneten Kapital ausruhen. Das bedeutet, sie besitzen Grundstücke oder Immobilien, welche über die Zeit im Wert steigen, oder große Unternehmen, wo Beschäftigte über Profite ausgebeutet also dem eigentlichen Wert ihrer Arbeitskraft beraubt werden. 

Während es im 19. Jahrhundert noch etwas klarer ersichtlich war, ob jemand Teil des Proletariats oder der Bourgeoisie war, muss heute schon etwas genauer hingesehen werden. In etlichen Branchen werden Menschen zunehmend in eine Scheinselbstständigkeit getrieben, bei der sie de facto in einem Verhältnis wie Arbeiter*innen oder Angestellte zu einem Unternehmen stehen, rechtlich gesehen aber selbstständig sind und damit deutlich weniger Rechte haben. Das ist verwirrend und macht es schwieriger, sich für bessere Arbeitsbedingungen zu organisieren – eine erbarmungslose, aber effiziente Veränderung des Arbeitsmarkts zugunsten der Kapitalist*innen.


 

Schon Marx erkannte, dass Kapital sich immer ausbreiten und ansammeln möchte, das zeigt sich bis heute, z.B. mit Praktiken wie der Scheinselbstständigkeit, mit der man Arbeiter*innen noch mehr ausbeuten kann. Aktiengesellschaften sind gewissermaßen dazu gezwungen, auszubeuten und Profite zu erwirtschaften, andernfalls steigen Investor*innen aus und die Überlebensgrundlage von Kapitalgesellschaften, das Kapital, verschwindet. 

 

Entfremdung

Der ständige Druck eines immer erbarmungsloseren Arbeitsmarkts ist bei weitem nicht die einzige negative Auswirkung des Kapitalismus, welche wir heute immer stärker zu spüren bekommen. Ein weiterer Aspekt, den Marx aufzeigte, ist die Entfremdung von der Arbeit. Mit dem Begriff wollte Marx seinerzeit ausdrücken, dass die Arbeiter*innen bei der Lohnarbeit Tätigkeiten nicht mehr für den eigenen Bedarf ausführten, sondern für ein fremdes Produkt, zu dem sie keinen Bezug mehr hatten und auch keinen Anteil an dessen Verkaufserlös. Meiner Meinung nach können wir diesen Effekt in den letzten Jahren besonders stark beobachten. Große Teile der Bevölkerung haben das Gefühl, eine sinnlose Arbeit zu verrichten, was auch in Umfragen zu dem Thema reflektiert wird. So wird die Arbeit nur zu einem notwendigen aber persönlich nicht erfüllenden Übel, um über die Runden zu kommen. Zweifellos trägt ein solches Arbeitsleben zu den zahlreichen psychischen Problemen bei, welche in vielen Ländern aktuell zunehmen. Das wird wohl leider auch noch länger so bleiben, denn solange die Produktionsmittel in den Händen der Kapitalist*innen sind, ist es stets ein zäher Kampf, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und demokratische Entscheidungen durch die Arbeiter*innen liegen oft in weiter Ferne.

Wie geht es weiter?

Wir sehen, dass marxistische Analysen auch heute noch aktuell sind, sie werden es auch immer bleiben, solange wir das kapitalistische System nicht überwinden. Es ist aber nicht immer einfach, den Marxismus ins 21. Jahrhundert zu übersetzen. Einerseits, weil er noch immer als Schreckgespenst präsentiert und mit autoritären Regimen gleichgesetzt wird, aber auch, weil die Welt heute eine andere ist als zu Marx‘ Zeiten. Das Kapital ist heute viel stärker international vernetzt und damit immer stärker vor nationaler Regulierung gewappnet, wie man bspw. an Steueroasen sehen kann.

Darüber hinaus ist aber auch die Klasse der Arbeiter*innen heute diverser als früher. Gerade in Industriestaaten wie Österreich machen sich Konservative und Rechte das zum Vorteil und versuchen die Arbeiter*innen zu spalten, indem sie beispielsweise autochthone Arbeiter*innen gegen jene mit Migrationshintergrund aufhetzen. Leider mit zu viel Erfolg. Um wirkliche, weitreichende Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erringen, braucht es eine breit aufgestellte, intersektionale Arbeiter*innenbewegung, bestehend aus Menschen von allen Geschlechtern sowie kulturellen und sozialen Hintergründen. Konkret auf Österreich umgelegt bedeutet das, dass vor allem Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund, welche häufig in schlechter bezahlten Branchen arbeiten und kein Wahlrecht haben, stärker in linke Organisationen, Parteien und Gewerkschaften gebracht werden müssen. 


 

"Konkret auf Österreich umgelegt bedeutet das, dass vor allem Arbeiter*innen mit Migrationshintergrund, welche häufig in schlechter bezahlten Branchen arbeiten und kein Wahlrecht haben, stärker in linke Organisationen, Parteien und Gewerkschaften gebracht werden müssen. "

Vor allem wir als Sozialistische Jugend stehen in der Verantwortung, uns zu bilden und bei mehr Menschen ein Klassenbewusstsein und Solidarität zu schaffen. Da ein solches Verständnis im staatlichen Bildungssystem nicht geschaffen wird, ist es unsere Aufgabe, das zu tun und darüber hinaus zu erklären, wie das System Kapitalismus funktioniert und warum es überwunden werden muss. In Zeiten ständiger Wirtschaftskrisen ist das Gefühl einer gespaltenen Gesellschaft und eine Wut gegen die Reichen ohnehin gegeben, doch ohne Aufklärung und richtige Systemkritik ist die Gefahr, in rechtsextreme Verschwörungstheorien abzudriften, leider auch gegeben. Marxismus im 21. Jahrhundert anzuwenden bedeutet, die Arbeiter*innenklasse als solche zu vereinen. Es bedeutet, sie zu organisieren und zu bilden, denn das sind die Verhältnisse, unter denen der Kampf für bessere Lebensbedingungen und die Kontrolle über Produktionsmittel am ehesten Erfolg verspricht.