Contra Wehrpflicht: Über die Antiquiertheit einer Position

Jakob Rennhofer

Kaum eine Position innerhalb der SJ ist so umstritten wie jene der Wehrpflicht. Wenn es um sie geht, können Diskussionen durchaus hitzig werden. Dabei werden gerne historische Argumente aus dem Keller geholt und eine anti-militaristische Haltung mit ihr begründet, was durchaus widersprüchlich scheint. Doch ist diese Position weiterhin einfach so aufrechtzuerhalten? 

Das Grundsatzprogramm neu gelesen

Um eine Kritik der Wehrpflichtsposition vornehmen zu können, ist es wichtig, zuerst die Passagen dazu im Kapitel „Friedenspolitik statt Militarisierung“ des SJ-Grundsatzprogrammes neu zu lesen.

„Die materielle Grundlage jeder Militärpolitik sind im bürgerlichen Staat die Streitkräfte. Historisch sind fast alle Heere der bürgerlichen Staaten als Armeen der allgemeinen Wehrpflicht entstanden. Als Antithese zu den feudalen Berufsheeren sollte die gesamte (bzw. eigentlich die Hälfte) der Bevölkerung in die Landesverteidigung eingebunden werden, um so das Entstehen eines von sozialen Interessen freien Heeres zu ermöglichen. Natürlich blieben die Streitkräfte im bürgerlichen Staat immer den Interessen der herrschenden Klasse verpflichtet, weil die Offizierskader großteils aus der Bourgeoisie stammen.“

Dieser materialistischen Analyse kann man noch zum Großteil zustimmen, wenngleich auch hier schon theoretische Defizite vorhanden sind. Die Annahme, dass sich die Klassendichotomie (Ausbeutende/Ausgebeutete) auf das Autoritätsverhältnis innerhalb des Militärs 1:1 anwenden lässt, ist definitiv zu kurz gedacht – aber dazu später mehr.

Im nächsten Abschnitt heißt es: „Aber die allgemeine Wehrpflicht wurde zusehends zur Gefahr für die direkte Umsetzung der bürgerlichen Politik sowohl in der imperialistischen Außenpolitik als auch in der repressiven Innenpolitik. Ein Heer, dessen Mannschafen vor allem aus Mitgliedern der ArbeiterInnenklasse besteht, aus Menschen, die soziale Interessen auch und vor allem außerhalb des militärischen Apparats besitzen, sind längst nicht so wie Berufssoldaten geeignet, den Weg für die Bourgeoisie in anderen Weltregionen frei zu schießen und noch weniger, als letzter Schutzschild gegen eine soziale Bewegung im eigenen Land zu dienen. Deswegen kam die allgemeine Wehrpflicht zunehmend in den bürgerlichen Misskredit. In den aggressivsten imperialistischen Ländern, den USA und Großbritannien kommt sie nicht mehr zur Anwendung. Die Sozialistische Jugend spricht sich deswegen mittelfristig für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht und gegen die Einführung eines Berufsheeres aus.

 

“Junge Arbeiter*innen, die noch nichts mit politischer Organisierung zu tun hatten, werden im Gegenteil durch den (zugleich repressiven und ideologischen) militärischen Staatsapparat angerufen und somit als militärisches Subjekt konstituiert, wodurch ihnen jegliche Identifikationsmöglichkeit mit der Arbeiter*innenbewegung genommen wird.”

Die Idee ist recht simpel und wird zumeist historisch begründet: Ein Bundesheer, das aus Arbeiter*innen besteht, schießt nicht so schnell auf Arbeiter*innen, da dies nicht in deren Klasseninteresse wäre. Dieser Annahme liegt ein deterministisches Denken aus der Mottenkiste der marxistischen Theorie zugrunde, die selbst die orthodoxesten Marxist*innen in dieser Form nicht (mehr) vertreten würden. Es ist weitläufig bekannt, dass Arbeiter*innen nicht automatisch im Klasseninteresse handeln, die Beispiele dafür wären endlos. 

Es ist gut vorstellbar, dass selbst ein Großteil der durch die Wehrpflicht rekrutierten Arbeiter*innen entgegen ihrem Klasseninteresse handeln und auf Klassenverbündete schießen würden. Junge Arbeiter*innen, die noch nichts mit politischer Organisierung zu tun hatten, werden im Gegenteil durch den (zugleich repressiven und ideologischen) militärischen Staatsapparat angerufen und somit als militärisches Subjekt konstituiert, wodurch ihnen jegliche Identifikationsmöglichkeit mit der Arbeiter*innenbewegung genommen wird.[1] 

Otto Bauer hat in seinem Standardwerk „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ bereits 1907 darauf hingewiesen:

„Der Kapitalismus hat die allgemeine Wehrpflicht notwendig hervorgebracht; aber er hat darum kein Volksheer geschaffen. Er sperrt seine Soldaten in die Kasernen, sucht sie dem Einfluss der Bevölkerung möglichst zu entziehen, sacht in ihnen durch äußere Auszeichnung und räumliche Fernhaltung, durch die Suggestion seiner Ideologie ein besonderes Standesgefühl zu erzeugen, das sie fernhält von dem Leben der Massen.“[2]

Man erweist der Arbeiter*innenbewegung demnach einen Bärendienst, wenn man junge Arbeiter*innen in den Militärdienst schickt. Hier würde auch eine Lektüre von Poulantzas helfen, der bereits gezeigt hat, dass eine physische Präsenz der Arbeiter*innen in einem Staatsapparat kein Garant dafür ist, dass dieser kontrollierbarer wäre. Es geht darum, die Widersprüche des Apparats durch soziale Kämpfe, die nicht zwingend in den Apparaten selbst geschehen müssen, radikal offenzulegen, damit dieser Apparat an den Widersprüchen selbst zerbricht.[3] Die Befürwortung des Wehrdienstes ist mitnichten ein diskursives Verfahren, das dies in irgendeiner Form zustande bringen könnte.

Dass die imperialistischsten Staaten den Wehrdienst abgeschafft hätten, da dieser ihnen zu gefährlich worden sei, ist der sowohl offensichtlichste als auch ärgerlichste Fehlschluss der Textpassage. Denn die imperialistischen Staaten setzen immer genau dann auf die Wehrpflicht, sobald eine militärische Intervention im Gange ist und dadurch noch mehr Kanonenfutter benötigt wird. Die Beispielliste reicht von den USA im Vietnamkrieg bis zur Generalmobilmachung im Ukraine-Krieg durch Russland. Auch in Deutschland kommt es im Zuge des Ukraine-Krieges wieder zu Debatten rundum die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Es zeigt sich also: Sobald der Imperialismus nur ansatzweise droht, in eine Krise zu schlittern, ist er auf eine Wehrpflicht angewiesen. Dass eine solche dem Imperialismus durch aufkeimende Proteste gefährlich werden kann, ist nur eine Seite der Medaille. Wenn nämlich zuvor die ideologischen Grundvoraussetzungen von der herrschenden Klasse geschaffen werden, kann die Einführung einer Wehrpflicht den imperialistischen Staaten nicht nur am Schlachtfeld, sondern auch bei der hegemonialen Universalisierung ihres partikularen Klasseninteresses helfen.

Zudem muss festgehalten werden, dass wir nicht das politische Klima der Ersten Republik haben. Es stehen sich keine organisierte Arbeiter*innenbewegung und ein proto-faschistisches Bürgertum gegenüber: Wir leben im Zeitalter einer neoliberalen postpolitischen Ordnung, in der es selbst linke Parteien oder Bewegungen kaum schaffen, sich außerhalb dieses Feldes zu positionieren. 

 

Zurück zur Realität

Ich habe mit meinen Ausführungen versucht, die Argumente für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus einer theoretischen Perspektive zu widerlegen. Nun soll kurz untersucht werden, wie die realen Bedingungen für Grundwehrdiener im Moment aussehen. Österreich ist ein Staat, der sich allein nicht zur Wehr setzen kann – viele kritisieren diese Tatsache und fordern ein aufgeblasenes Verteidigungsbudget. Vielmehr ist dieses „sich nicht verteidigen können“ jedoch als „sich nicht verteidigen müssen“ zu sehen, da wir als neutraler Staat eine vermittelnde Außenpolitik vertreten sollten, die zwischen jenen Ländern deeskaliert, die die Mittel dazu haben, sich gegenseitig ins Verderben zu bomben. 

"Es stehen sich keine organisierte Arbeiter*innenbewegung und ein proto-faschistisches Bürgertum gegenüber: Wir leben im Zeitalter einer neoliberalen postpolitischen Ordnung, in der es selbst linke Parteien oder Bewegungen kaum schaffen, sich außerhalb dieses Feldes zu positionieren."

Im Moment sieht der Grundwehrdienst für die allermeisten jungen Männer daher wie folgt aus: Zuerst werden sie in der Grundausbildung durch militärischen Drill gepeinigt, danach werden sie zu mehr oder weniger sinnlosen Arbeiten verdonnert – das alles zu einem Gehalt, wo sich jeder Konzernchef noch ins Fäustchen lacht. Nebenbei wird versucht, aus aufgeklärten jungen Menschen militärische Disziplinar-Subjekte zu machen, die sich auf genau jene hierarchische Disziplin stützen, die wir als Sozialistische Jugend tagtäglich versuchen zu bekämpfen: Die Disziplin, sich vollends der herrschenden Ordnung zu unterwerfen und den Unterwerfern bedingungslos zu vertrauen. Auch patriarchale Ideologien werden reproduziert, wenn aus jungen Burschen soldatische Männer (Theweleit) gemacht werden. Dass der Wehrdienst auch verdammt viel Lebenszeit kostet, steht außer Frage.

Insgesamt wird es meines Erachtens Zeit für die SJ, sich von dieser altbackenen Position zu verabschieden und eine Abschaffung des Bundesheers zu fordern, ohne dabei auf die politische Unterstützung des Wehrdienstes zurückgreifen zu müssen.

 

Anmerkungen

[1] Ich beziehe mich hier lose auf den Text „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ von Louis Althusser.

[2] Bauer, Otto (1905): Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand, Seite 80 f.

[3] vgl. Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA Verlag. Seite 183 f.